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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Weiten der Mongolei könnte sie unbegrenzt Vögel beobachten und den Liedern ihrer Stimmen lauschen? Je nach Jahreszeit und Region träfe sie auf Steinadler, Steppenadler, Zwergadler und den Mongolenbussard, sähe die Steppenweihe, Wiesenweihe oder den Schwarzmilan, aber auch Rötelfalke, Würgfalke, Mönchsgeier, Alpenkrähe, Pazifiksegler wären nicht zu verachten, genauso wenig wie die Graugans, Schwanengans, Rostgans und der Mongolenregenpfeifer, Kiebitz, Trillersperber, die Spießbekassine, Waldbekassine und Uferschnepfe und Rotschenkel und Teichwasserläufer und Steppenschlammläufer und Odins Wassertreter auch! Und erst die Klippentaube, das Steppenflughuhn, die Mongolenlerche und die Ohrenlerche, Kurzzehenlerche, Zitronenstelze, Schafstelze, und bei diesem Gedanken begann ihr Herz höher zu schlagen: die Steppenbraunelle! Im Weiteren auch Mattenschmätzer, Steinschmätzer, Steinrötel, Bartmeise, Lasurmeise, Elsterdohle, Fichtenammer, Rötelammer, Spiegelrotschwanz, Dorngrasmücke und schließlich der Jungfernkranich, der Weißnackenkranich und der Schneekranich, ach! So viel Klang in ihren Ohren, der da hätte sein können, und jetzt: nichts.
    Kein Vogel weit und breit. Nicht ein Flügelschlag, kein Schnäbelchen, nichts.
    Aude wartete.
    Aude wartete.
    Aude konnte stundenlang warten, zeitvergessen.
    Die Sonne zog und warf lange Schatten übers Land. Kilometerlang. Aude schaute den Boden an. Struppiges Gras, bunte kleine Steinchen, vereinzelt Sukkulenten, sie waren in Wüstennähe angelangt, darüber bestand kein Zweifel. Es roch nach Wildzwiebeln und Beifuß. Der Wind sang ein einsames Lied und berührte die Halme mit eintausend Fingern.
    Die letzten drei Wochen über war Aude zusammen mit einer fünfköpfigen Truppe von Ornithologen aus aller Welt durch die Mongolei gereist. Ein Mann aus Kanada, ein Mann aus Dänemark, ein Mann aus Schottland, ein Mann aus Belgien und ein Mann aus Korea wurden von Tömörsükh und einem zweiten Mongolen namens Ganbaatar, Stahlheld, in zwei UAZ durch die Gegend chauffiert. Mit von der Partie war auch ein junges Mädchen, Zayanyam, Schicksalssonntag, das für sie alle täglich Eintopf kochte. Umgangssprache war ein brüchig zusammengetackertes Englisch, aber Aude hatte bereits bei der Ankunft am Flughafen ihre Ohren gespitzt und die gängigen mongolischen Formeln für Gruß, Abschied, Einverständnis und Protest erkannt. Und von dem Moment an, als sie ihren Fuß auf mongolisches Steppenland gesetzt hatte, hatte sie sich heimisch gefühlt. Die ruhigen Umgangsformen, die wenigen Worte, die gebraucht wurden, das gänzlich fehlende Geschwätz, öffneten ihr das Herz. Oft hatte sie nicht nur die Vögel durch ihr Zeiss-Dialyt-Fernglas betrachtet, sondern auch die mongolischen drei in ihrem Rücken belauscht. Sie mochte dieses stille, stete Ch-d ch-d ch-d, das der mongolischen Sprache eigen war, die verschiedenen A und O, die Art, wie sie die U unterschieden, je nachdem, wie guttural oder labial die Sprechenden diese mächtigen Konsonanten durch ihren Rachen, den Resonanzraum ihres Mundes, transportierten. Nach einer Woche hatte sie bereits das Gefühl, innerlich mitzureden, auf alle Fälle im Bilde zu sein, was vor sich ging und über welches Thema laut nachgedacht wurde.
    So wenige Worte Mongolen auch verbrauchten, so wenige Schritte taten sie freiwillig. Umso mehr versetzte es Aude in Erstaunen, dass ihr Fahrer einen offenbar doch längeren Fußmarsch in Angriff genommen hatte. Von ihm war nichts mehr zu sehen. Unschlüssig schob sie ihr Fernglaszurück ins Futteral. Das Spiel der Sonne und Schatten verlor sich in der Unendlichkeit, die sich noch immer weiter ausdehnte. Eine Elastizität des Raums, die nur das Licht hervorbringen konnte.
    Aude stand auf, reckte die Glieder. In ihrem rechten Hüftgelenk knirschte der Oberschenkelknochenkopf, sie rieb sich den Trochanter.
    Die letzten beiden Reisewochen hatte sie alleine verbringen wollen. Ein Fahrer, mehr nicht, man könnte auch essen, was man selber zubereitete. Hauptsache fort von diesen schwatzhaften Menschen, die sich Ornithologen schimpften und dabei ja doch nur auf langen Listen sinnlose Kreuzchen eintrugen, wann immer sie einer Gattung ansichtig wurden. Und dann abends die Biergelage! Nein. Nein, Aude brauchte Zeit für sich, in Stille, vereint mit den faszinierenden Klängen der Natur, die sie hier so unmittelbar umgab. Also hatte sie Eisenaxt dazu überredet, mit ihr noch einmal loszufahren. Und das waren sie dann auch.

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