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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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schwarzes Haar kämmen zu spüren. Abends las sie Geschichten vor, oft waren es die Märchen aus Grimms Sammlung. Aber einmal, als Aude wieder für zwei oder drei Wochen auf Forschungsreise war, hatte er ein altes Buch von zu Hause mitgebracht. »Von Liebe und Ehe der Vögel«, las Lorine den Titel vor. »Möchtest du daraus etwas hören, Aurelio?«
    »Bitte.«
    Lorine blätterte und stoppte etwa in der Mitte des Bildbandes: »Nicht umsonst ist der europäische Kuckuck der berühmteste aller Brutparasiten: Er hat es in diesem ›zweifelhaften Gewerbe‹ zu unerreichter Meisterschaft gebracht. So wie er das Fortpflanzungsproblem löst, ist eine Ehebindung überflüssig. Die Männchen haben zwar eigene Reviere, die sie besetzt halten, die Weibchen jedoch streifen herum und lassen sich einmal hier, einmal dort anbalzen und verführen.«
    Sie warf einen Blick auf ihren Neffen. Der aber saß mit verträumt verdrehten Augen auf dem Bett, die einschlummernde Fatime im Arm, und horchte gespannt darauf, wie sich diese Geschichte weiterentwickelte.

Otis tarda
    irgendwo an einem nicht näher bezeichneten Ort in der Mongolei, 1997
    Tömörsükh war losmarschiert. In die Richtung, in der er eine Jurte vermutete. Menschen. Hilfe. Einen Traktor vielleicht? Sie hatte keine Ahnung, sie hatte ihn ja nicht verstanden, dieses nicht, oder vielleicht hatte sie ihn auch gar nicht erst verstehen wollen, was war schon zu erwarten von einem, der mit Namen Eisenaxt hieß und ohne jedes Feingefühl über die Steppe bretterte und dabei wer weiß wie viele Nester von Steppenbrütern zerstörte. Der russische Geländewagen, ein hellblauer leidenschaftlicher UAZ, mit Rädern halb so groß wie ein Mensch, steckte im Matsch fest. Loser Untergrund, feucht gewordener Sand, klebriger Magnet der Erde.
    Ihren neunundzwanzigsten Geburtstag würde Aude also irgendwo alleine im Grenzgebiet der drei Bezirke Archangai, Bayanchongor und Öwörchangai feiern. Sie hatte keine Ahnung, sie hatte die Himmelsrichtungen ob all dieser wogenden Hügel, die wie die Wellen eines Ozeans keine für Menschenaugen ersichtliche Struktur kannten, schon vor Stunden verloren, und vielleicht waren sie auch bereits viel weiter westlich gelangt und in den Bezirk Gobi-Altai eingedrungen, den Teil des Landes, den sie auf dieser Vogeltour unbedingt noch besuchen wollte. Irgendwo im Changaigebirge hatten sie den richtigen Weg verlassen, so viel hatte sie verstanden. Jamar zam, welcher Weg, hatte Tömörsükh gefragt, jamar zam, und dabei auf die davonhuschenden Ziesel gezeigt, die vor den Erderschütterungen, die der kräftige Wagen hervorrief, flohen.
    Und dann hatte er den UAZ in ein Erdmatschloch gewuchtet. Zuerst hatten sie probiert, die Räder freizuschaufeln, mit blechernen Kochlöffeln, Plastiktassen, bloßen Händen. Vor jedem Versuch, den Wagen freizureißen, hatten sie die Fußbodenmatten aus Gummi vor die Räder gelegt und, Aude am Steuer, Eisenaxt am breiten Hintern des UAZ, gekämpft und gestemmt und gedrückt und gewürgt, aber da war nichts zu machen, die Situation war im wahrsten Sinne des Wortes verfahren.
    Aude hatte Eisenaxt die Bedenken im Gesicht angesehen, hatte seine kleinen Panikexplosionen, die zusammen mit dem Angstschweiß über seine angespannte Haut vibrierten, schon längst mit ihrem Gehör aufgenommen, als er sich breit vor sie hinstellte und ihr mit seinem urtümlichen Mongolisch zu verstehen gab, hier auf ihn zu warten. Der Weg sei lang und die Nacht komme bald. »Understand?«, und Aude hatte auf Mongolisch geantwortet, teg, tegje, so machen wir’s.
    Dann war er losmarschiert.
    Aude saß im offenen UAZ, ließ die Füße zur Türe hinausbaumeln. Sie fühlte sich plötzlich sehr schläfrig. Die Abendsonne schien irgendwo hinter dem nächsten oder dem übernächsten Hügel. Vor ihr lag das Land wie aufgefaltet und unendlich weit. Sie hatte es auf dieser Reise gemerkt, hinter jedem Hügelzug lauerte nur doch wieder der nächste, und auch da, wo das Gebirge in die Steppe überging und die Steppe in einer Halbwüste auslief, auch da: nichts als ewige Unendlichkeit.
    Sie hatte sich diese Reise geschenkt, nach der erfolgreichen Abnahme ihrer Dissertation, nach jenem Studium, der Forschung, der strengen Entwicklung, die ihr Leben genommen hatte, hatte sie mit beiden Händen den Globus in Vaters Haus gedreht und eingehend gesucht. Galapagos, die Azoren, die Insel Wrangel, aber nein, nicht eine Insel,eine Welt wollte sie entdecken. Und wo anders als in den

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