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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Nur zu dumm, dass er offenbar nicht routenkundig war. Aude dämmerte jetzt, dass ihr Fahrer zumeist dem Vorfahrer, Ganbaatar, nachgedeppert war. Kein Sinn für Fährten, kein Sinn für Fahrten. Und jetzt war er zu Fuß unterwegs auf der Suche nach irgendeiner Hilfe, und sie allein.
    Unentschlossen tat sie ein paar Schritte. Ihre Blase machte sich bemerkbar wie eine Kugel, die in ihrem Innern kullerte. Bevor sie losmarschierte und sich einen geeigneten Platz zum Niederkauern suchte, griff sie hinter sich und nahm das Fernglas mit.
    Sie war noch nicht allzu weit gegangen, das blaue Blech des UAZ blinzelte ihr über die Steppe zu, da glaubte sie, ein paar Hundert Meter vor sich eine typische Bewegung ausgemacht zu haben. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Langsam, ganz langsam hob sie das Fernglas vor ihre Augen. Da. Groß. Braungescheckt. Federbart. Konnte das wirklich
Otis
tarda
sein? Die Großtrappen waren über weite Teile der Mongolei verbreitet, so unglaublich wäre das nicht, hier einen dieser Zugvögel anzutreffen. In ihrem Kopf ratterte es. Großtrappen. Sie gehörten zu den schwersten flugfähigen Vögeln, bevorzugten aber in offen einsehbaren Flächen die Fußwanderung. Lebten gesellig. Meist in getrenntgeschlechtlichen Gruppen. Dem Bärtchen nach müsste es sich bei dieser hier um ein männliches Exemplar handeln. Geräuschlos setzte Aude ihren Weg fort. In Richtung Vogel.
    Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen war. Die Sonne war nun beinahe versunken, und nur einmal noch, kurz, hatte sie seinen Federkopf über das gebleichte Steppengras wackeln sehen. Himmelsrichtungen und Distanzen, nie hatte Aude damit ihre Mühe gehabt, aber in der Mongolei verschätzte sie sich fatal. Das Tier musste sich noch immer in gehöriger Entfernung befinden. Sie konnte nicht aufgeben. Nicht bei Vögeln. Nicht hier.
    Nicht jetzt, sie war schon viel zu weit gegangen.
    Immer wieder schwenkte bei ihrer Pirsch ihr Blick nach unten, um sicherzugehen, dass sie auf kein Brutgelege trat. Immer wieder richtete sie ihren Blick durch das Fernglas nach vorne, auf der Suche nach Ornithologenglück. Und nur ab und zu blickte sie über die Schulter, vergebens, der UAZ war außer Sicht.
    Und dann passierte das Allerdümmste, das Allerlächerlichste. Keine Gletscherspalte, in die sie gefallen wäre, kein Krokodil, das nach ihr geschnappt hätte, kein Drachenschlund, nein, ein Kiesel war’s, ein einfacher schwarzer Kiesel, der sich geschickt unter ihre treuen Lowa-Wanderschuhe geschoben hatte und damit das untere Sprunggelenk ihres rechten Fußes zum Einknicken brachte. Als Folge ein kurzer heftiger Schlag gegen den Innenknöchel, der sich durch die Schienbeingelenkfläche nach oben zog und gleichdarauf auch noch das Knie zum Einknicken brachte, so dass sich eine Schlaufe des Schmerzes den Oberschenkelknochen emporschlängelte, dort das Hüftgelenk aufkreischen ließ und sich schließlich in Audes rechter Gesäßhälfte als ziehend heiße Schwellmasse ausbreitete. Sie fand sich mit aufgeschürftem Gesicht und schmerzenden Handgelenken auf aridem Steppenboden wieder.
    Schlimmer als die körperlichen Schmerzen, die sie rechtsseitig spürte, wirkte sich ihr persönlicher Ärger auf sich selbst aus. Sie schimpfte und fluchte und verspannte sich noch mehr. Aufzustehen probierte sie nur zweimal, dann gab sie auf. Unter einem fast tierischen Aufschrei raffte sie das Fernglas an sich heran. Da kauerte sie, von jeder noch verbliebenen Großtrappe verlassen, allein inmitten der mongolischen Steppenwüstenei.
    Die Stille wurde laut.
    Bald würde es gänzlich dunkel sein.
    Was hatte sie sich nur dabei gedacht, alleine loszugehen?
    Was hatte sie sich nur dabei gedacht.
    Ihr Körper wurde von einer kompromittierenden Müdigkeit befallen, sie hätte sich am liebsten hingelegt. Sie fühlte sich bloßgestellt und gedemüdigt.
    Was hatte sie sich nur dabei gedacht.
    Wenn sie jetzt stürbe?
    Wäre ihr Sohn dann eine Waise?
    Wer würde es ihm sagen?
    Der Truppe abhandengekommen, alleine unterwegs, stur und unbelehrbar. Wusste immer alles besser. Floh die Menschen, vor allem die Männer.
    Was würde auf ihrem Grabstein stehen?
    Im Schatten deiner Flügel ruht …?
    Elf war er, Aurelio. Elf Jahre schon. Wie viele davon hatte sie wirklich mit ihm zugebracht?
    Was wusste sie von ihm?
    Warum war sie hier?
    Warum war sie hier?
    Aurin war ein frohes Kind. Eines, das sich die Fragen selber beantwortete. Immer wieder hatte Aude Angst gehabt, ihn durch zu viel Offenheit

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