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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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drückte aus, dass es nun Zeit wäre für Aude, sich hinzulegen. Aude erhob sich aus dem Korbstuhl und begab sich die wenigen Schritte hinüber zur Liege.
    »Da drauf?«
    »Da drauf.«
    Als sie sich hinlegte, spürte Aude jeden Knochen. Ihr Hinterkopf lag irgendwie kantig auf, die geschwungene Linie vom Halsansatz bis zu den Schultern drückte sich von der Liege weg, so, als wollte sie aufwärts springen, ihr linkes Schulterblatt lag flach, das rechte pikste sie, oder wardas ein Stechen in der Lunge?, ihre Pobacken fühlten sich wie vierzig an, und auch im Kreuz wollte sie keine Ruhe finden. Nur die Beine, die kurzen, lagen schlaff und breit auf, der rechte Fuß nach außen gerichtet, als gäbe es dort etwas Spannendes zu sehen, der linke einwärts ruhend. Aude fühlte sich wie ein nachlässig hingeworfener Papphampelmann, uneins mit ihren Gelenken, uneins mit sich selbst. Leicht peinlich berührt, so ausgeliefert und ohne Schutz vor ihrer Schwester dazuliegen.
    »Geht’s?«
    »Geht.«
    »Spannt die Hose nicht?«
    »Ist mit Elastan.«
    Aude sah, wie Lorine sie betrachtete. Oder eher: wie Lorine ihren Körper betrachtete. Ihre Arme, ihre Brustwirbel, die Hüfte, die Schenkel, den Kopf.
    »Wie fühlst du dich? Fühlt sich eine Seite anders an als die andere?«
    »Hmm.« Aude versuchte, etwas zu spüren. »Also, ich weiß nicht. Vielleicht ist die linke Seite flacher als die rechte? Rechts fühlt sich höher an, gespannter. Links sackt irgendwie ab.«
    »Mhm, gut«, machte Lorine. Die Blicke der beiden Schwestern verschränkten sich ineinander, und Aude wurde warm. Es war dieser Blick ihrer Schwester, den sie immer so geliebt hatte, den sie vermisste, wenn sie sie länger nicht sah. Dieser Blick, der ihre Kindheit sicher gemacht hatte und ihr Erwachsenwerden groß. Der sie bei allem Zweifel, allem Unmut zuweilen auch, einfach Aude sein ließ, fraglos Aude. Lorine besaß darin eine Grandeur, die nicht selten an Abel erinnerte. Und eine Art, sich zu bewegen, wie eine Prinzessin auf Schneeflocken, die keine Spuren hinterließ. Aude ließ die Lider flattern.
    »Welche Seite hast du gesagt, ist es?«
    Aude hörte die Frage wie durch ein Daunenbett hindurch, sie flüsterte: »Rechts. Ich kann mich nicht mehr nach rechts drehen, von der Hüfte aufwärts nach rechts geht fast gar nichts mehr.«
    Und von weit, weit her: »Die Hüfte?«
    »Hüfte …, dort beginnt der Schmerz …«
    Warme umschließende Hände hoben Audes linken Fuß sachte von der Liege und legten die Ferse in ein weiches Handballenbett. Die kleine Zehe machte den Start, sie durfte mit Hilfe Lorines geschulter Hände ihre Apparatur erforschen. Drei Glieder an einem Strang: Grundglied, Mittelglied und Endglied, kleiner halbvergessener Finger des Fußes.
    Aude dachte verschwommen daran, dass sie eine römische Fußform hatte, bei der alle fünf Zehen quadratisch in Reih und Glied standen. Ein bisschen dumm sah das aus, fand sie. Anders als bei ihrer Mutter, die perfekte Füße hatte, eine griechische Form, bei der die zweite Zehe die längste war und eine Zehe schöner als die nächste, und anders auch als bei ihrer Schwester mit ihrem noblen ägyptischen Fuß, gekennzeichnet durch die überaus lange große Zehe, die den Sieg um Längen für sich ausmachte und die Audes römischer Quadratur weit voraus war.
    Lorine arbeitete sich gewissenhaft durch die Reihen von klein nach groß.
    Das Bild von Aurelios Zehen flog vor Audes geschlossenem Augenlid vorbei, kleine dreijährige Bubenzehen, feingliedrig, lang und tastend, als wären es die Finger einer Hand. Aurelio ist noch unversehrt, dachte sie, und schon kam ein neues Bild, als Lorine die Gelenke des Mittelfußknochens in Bewegung versetzte.
    »Es geht darum, dass du deine Bewegungen optimierst«, sagte sie leise, »und dafür musst du sie erst einmal neu kennenlernen. Deine Wahrnehmung, Aude, ist nicht von deinemHandeln zu trennen. Stell dir ein Mobile vor …«, und Aude stellte sich ein Mobile vor, oder das Mobile stellte sich Aude vor, wie sie als Säugling in einer Plexiglasschale lag und von unten nach oben schaute, atmete, horchte. »Denken …«, Aude dachte, was ist Denken?, »und Fühlen …«, Aude überlegte, was fühle ich?, »und Wahrnehmen …«, was … ist … das?, wenn ich Vögel beobachte? Wenn ich fliege? In meinen Träumen die Flügel spanne, den Körper weite, mich von der Erde abstoße …, »und Handeln, Aude, sind nicht …«, fliege!, »isoliert zu betrachten. Sie wirken alle vier

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