Die Ruhelosen
Das Vlies, das uns zusammenhält.«
Mit glänzenden Bernsteinaugen und hochroten Wangen betrachtete Aurelio die Mappen. Diese ganze Arbeit. Dieseganze Pflichtversessenheit. Seine Mutter. Seine stille, stumme Mutter, maulfaul, wie man sie einst genannt haben soll, heute mit einem so beredten Blick. Er sah, wie sie auf ihre Hände starrte.
Langsam blätterte er die Akten durch, stellte hier und da eine Frage, ließ seiner Verwunderung freien Lauf und rief später seine Şirîn auf dem Handy an, sie solle den Wagen nehmen und nach Büttenhardt herausfahren. Es sei etwas im Gange, bei dem er sie dabeihaben wolle.
Zu viert gingen sie die Seiten durch, Aurelio, Aude, Tom und die blühende Şirîn, sprachen über neugefundene Verwandte, tauschten sich über mögliche Legenden aus und schifften ihr Schiffchen durch die Gischt ihrer Existenz. Als sie sich durch die DVD gearbeitet hatten, holte Tom den alten Revox hervor und spannte ein weiteres Band von Abel Ditrich ein. Es schien, es wollte an diesem Abend nie genug sein. Und noch einmal zog Aurelio eine der dicken Mappen hervor, noch einmal fuhren seine Finger über stockfleckiges Bütten, berührten Kopien und alte Daguerreotypien, Reprographien, empfingen seine Geruchssensoren den Odem der Jahre. Dann hielt er inne. Er wollte nach diesem ersten Gesamtüberblick den Fokus auf ein bestimmtes Dokument richten. Nachdem Schübelbach zum wiederholten Male das Einbürgerungsgesuch von Şirîn mit verwischten Worten abgelehnt hatte, interessierte ihn die »Naturalisation« seines Ururgroßvaters, Elia Costantino Italo Israël, ganz besonders.
Aude hatte alles der Reihe nach geordnet und sortiert. Zuerst die Fotos der einzelnen Menschen, dann die Reprographien der entsprechenden Wohn- und Wirkstätten, dann die gesammelten Dokumente pro Mensch und Fall in der Originalsprache und schließlich deren Übersetzung auf Deutsch.
Dokument Nr. 1:
Naturalisation. Auskünfte, gegeben durch den Dienst des Inneren, über den Kandidaten:
Elia Costantino Italo Israël
Herkunft
Wohnsitz
Beruf
Zivilstand
Alter
Dauer des Wohnsitzes
geboren (wo?)
Mutter
Ehefrau
angenommenes Bürgerrecht
Auskünfte
Gemeindefinanzen
Italien
Lausanne
Fabrikant
verheiratet
32 Jahre
7 Jahre in der Schweiz
in Triest
italienisch
russisch
Préverenges
2 Kinder
3000 Franken
Dokument Nr. 2:
Leumundszeugnis
Die Gemeideverwaltung von Lausanne,
auf Verlangen von Elia Israël, wohnhaft in Lausanne, Avenue d’Echallens 80, von Italien nach einem Leumundszeugnis, dessen er bedarf zum Zwecke des Erwerbs der schweizerischen Staatsbürgerschaft,
erklärt, dass der vorgenannte Elia Israël, der am 28. August 1890 geboren worden ist und in dieser Gemeinde seit dem 1. November 1919 wohnhaft ist, einen guten Leumund in Bezug auf Ansehen seiner Führung und seiner Moral genießt.
Gegeben zu Lausanne, den vierzehnten Dezember Tausend Neun Hundert Einundzwanzig.
Der Bürgermeister Der Sekretär sig. x
Gebühr 65 Rp.
Dokument Nr. 3:
Rapport des Polizeimanns FAWER 56, Betreff. An den Herrn Kommandanten des Polizeikorps. Auskünfte betreffend des Einbürgerungsgesuches von ISRAËL Elia.
Gesuch um Einbürgerung zugunsten von:
ISRAËL Elia Costantino Italo, herkünftig von Triest, geboren den 28. August 1890, Kaufmann, (früher Musikkünstler), und seiner Familie, nämlich seiner Ehefrau, Cheina Malka, geborene Moisseiff, geboren den 15. Dezember 1893, und seiner Kinder Abel Lazzaro, geboren den 25. Dezember 1917, und Pierre Isaac, geboren den 26. März 1919, alle wohnhaft Av. D’Echallens Nr. 80.
Die Familie Israël wohnt in Lausanne seit dem 1. November 1919. Herr Elia Israël ist in Triest geboren, wohnte dann in Fiume, wo sein Vater einen Lederwarenhandel betrieben hat, bis zu seinem 24. Jahr. Dort hat er seine Primarschule absolviert und zwei Jahre Handelsschule.
Seit seiner Geburt der Musik zugeneigt, reiste Letzterer als Musiker in verschiedenen Ländern, insbesondere in Amerika, dann in allen Ländern Europas. Er traf in der Schweiz am 29. März 1915 ein, zuerst in Zürich, und arbeitete in allen Städten der Ostschweiz.
Er verheiratete sich in Aarau am 13. März 1917 mit Fräulein Moisseiff, Künstlerin, russischer Abkunft, kehrte dann
in die Ostschweiz zurück, wo seine beiden Kinder geboren wurden.
Er kam in Lausanne mit seiner Familie am 1. November 1919 an und wohnt seither dorten in einer regelmäßigen Art. Er war zuerst Orchesterchef im
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