Die Ruhelosen
einfach aus. Wir haben ein Jahr lang Zeit, spätestens dann entscheiden wir, ob’s passt.«
Die Furcht vor der Nähe, die schreckensvolle Idee, Entscheidungen gemeinsam treffen zu müssen, und die fast panische Angst vor dem ersten Vogel, den eine der neun Katzen zwischen ihren scharfen Zähnen unweigerlich nach Hause tragen würde, wogen dann aber doch nicht so schwer wie die Vorfreude auf das Ungewisse, der Ruf des Abenteuers und die stille Verheißung einer möglichen Gefährtenschaft mit Tom. Zudem hatte der Gedanke, etwas näher an den Bodensee zu rücken, durchaus auch seinen Reiz. Nun denn, Aude, auf.
Die kleine Bauerngemeinde Büttenhardt mit der Gemeindenummer 2914 und der Postleitzahl 8236 umfasste gerade mal eine Fläche von vier Quadratkilometern. Sie zählte etwas weniger als 350 Einwohner. Und obschon ihre Maße alles andere als beeindruckend waren, schaute die Gemeinde auf eine Geschichte zurück, die in jedem Fall sowohl einzigartig als auch kennzeichnend für den Lauf der ganzen Welt war. Drei Höfe bildeten im 16. Jahrhundert das Dorf: der Maulenhof, der Tannerhof und der Verenahof. Die niedere Gerichtsbarkeit oblag der Stadt Schaffhausen für den Tannerhof, und den Familien Im Thurn und Peyer über die beiden anderen Höfe. Die hohe Gerichtsbarkeit allerdings lag bis 1723 in den Händen von Vorderösterreich. Als 1811 der Verenahof ans Großherzogtum Baden fiel, umschloss die Gemeindemarkung die deutsche Enklave vollständig. Grenzsteine wurden auf- und abgebaut, Nachbarn separierten sich zu Diesseitigen und Jenseitigen, Eigenen und Fremden. Bald schon ersah man es als immens wichtig, weil identitätsstiftend, endlich ein eigenes Wappen und Siegel zu erfinden. Ein währschaftes sollte es sein, ein sittsames auch, eines, das die noble Gesinnung, die moralischeGesundheit und die Prosperität der Gemeinde und der Gemeindler eindeutig und unzweifelhaft verkünden sollte. Und so kam Büttenhardt zu seiner in den Boden gesteckten Pflugschar, umgeben von blühenden Ähren. Ein Symbol für die Menschen, die mit dem Grund und Boden unter ihren Füßen verhaftet waren, nicht zuletzt weil man zu den Sonnenwenden sämtliche Gemarkungsgrenzen mit dem Pflug abgefahren war, ein damals noch tief verwurzelter Volksglaube, um die bösen Geister vor dem Übertritt aufs eigene Land abzuhalten.
Aber nichts vermag eben den Lauf der Geschichte aufzuhalten, und so wurde die Enklave Verenahof im Sinne eines Gebietsabtausches und zur endgültigen Grenzbereinigung um 1967 mit der Schweiz, namentlich mit der Gemeinde Büttenhardt, vereinigt. Die letzten Schilder mit Deutschem Reichsadler mussten abgeschraubt werden und wurden eilends durch Schweizer Staatsembleme auf Metall ersetzt. Die Einverleibung war vollbracht.
Draußen schneite es. Tausende von Zugvögeln waren auf ihrer Rückreise nach dem Norden umgekehrt und bevölkerten nun die wärmeren Regionen rund um den Bodensee. Der strenge Winter hatte zu so manchem Kuriosum geführt, die ganze Schweiz lag unter einer weißen Decke, und Aude, heimelig warm an den Kachelofen eines Bauernhauses in Büttenhardt gelehnt, fragte sich, ob sie jemals eine jener Frauen sein könnte, die sich bei Kälte auch an eine Männerbrust schmiegten.
das fehlende Glied
Büttenhardt, 2011
Was ist richtig? Was ist falsch? Was macht man, wenn man jung ist? Was ist da der rechte Sinn? Dies hatte Mondaine einst gefragt, mehr rhetorisch, als dass sie wirklich Antwort erwartet hätte. Daran dachte Aude, als ihr Aurelio verkündet hatte, Şirîn sei schwanger. Mit vierundzwanzig würde Aurin also Vater werden, mit dreiundvierzig Großmutter sie.
»Ich glaube, jetzt ist die richtige Zeit«, murmelte Aude, lüpfte eine der schwarzen Katzen von ihrem Schoß, auf dem diese kugelig eingemümmelt wohlig vor sich hin geschnurrt hatte, erhob sich und ging zur großen Vitrine. »Ich habe hier etwas für dich, Aurin. Ein Geschenk. Ich habe die letzten Jahre über daran gearbeitet. Ich dachte, es würde irgendwann einmal fertig sein. Ich denke aber, das wird es nie. Muss es auch gar nicht. Wie auch immer, ich glaube, jetzt ist die richtige Zeit dafür. Hier. Es ist für dich.«
Aude überreichte ihrem Sohn eine DVD zusammen mit dreizehn dicken Aktenmappen voller chronologisch geordneter, systematisierter und akkurat erfasster Briefe, Fotos, Notizen und Bilder.
»Was ist das?«
»Das ist, wer wir sind, Aurin. Es ist unser Leben. Wir alle. Und alles, was ich habe finden können. Unsere Geschichte.
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