Die Ruhelosen
sein Einverständnis würde einholen können. In der Zwischenzeit wuchs der Katzenbestand an. Ich weiß auch nicht, was für Deppen einem Mann wie ihm noch Katzen verkauften, aber er brachte insgesamt neun Stück nach Hause.«
Tom blies sich eine Strähne aus der Stirn.
»Noch nicht lange her, da verstarb mein Vater.«
Er holte einmal tief Luft, Aude sah wieder den Spalt zwischen seinen Zähnen, als er mit hilfloser Geste in die Runde sagte: »Seither sind die Katzen hier.«
»Das tut mir sehr leid, das alles.«
Ohne darauf zu reagieren, sagte er: »Als du mir damals wegen der Musik hinterhergefahren bist, war ich auf dem Weg zu einer Katzenstation. Ich wollte mich nach Möglichkeiten erkundigen, all diese Katzen abzugeben. Man hätte sie dort auch tatsächlich samt und sonders aufgenommen. Aber irgendwie habe ich es dann auch nicht übers Herz gebracht, sie wegzubringen, solange er noch lebte. Ich weiß, es ist dumm, aber ich mache mir Gedanken wegen der Weitervermittlung der Katzen. Weil, gerade im Rheintal oben isst man doch Katzenhaschee zu Weihnachten.«
»Bitte?«
»Hackfleisch. Ich habe das einmal irgendwo gelesen.«
Toms Hand wich einer Pfote aus, die nach ihm langte. »Meine Mutter hat mir erzählt, dass am Abend, bevor mein Vater starb, alle neun Katzen bei ihm auf dem Bett gelegen hätten. Stell dir das mal vor. Sie hat zu mir gesagt, dass sie das nie zuvor gemacht haben.« Ein Spalt zwischen zwei weißen Zähnen, ein Atemzug und dann: »All das und vermutlichauch das Neue an der ganzen Situation haben mich dazu bewogen, erst einmal abzuwarten. Ich weiß zwar, dass sie hier nicht bleiben können, aber im Moment sind sie jedenfalls noch hier.«
»Das tut mir alles so leid«, flüsterte Aude, aber Tom hatte es wieder nicht gehört, er sagte: »Da fällt mir gerade ein: Es gab auch etwas Lustiges an der ganzen Sache. Die Polizei hat damals, 1933, hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, dass es jetzt wenigstens keine Sexualgänger mehr am Zürichberg gäbe und das nächtliche Ausrücken wegen einer verstörten Villenbesitzerin, der man durch die Jalousien ins Schlafgemach gespienzelt hatte, getrost ausbleiben konnte. Zumindest für die Dauer, da man den Panther noch dort oben wähnte. Verrückte Welt, was!«
Die Stille, die jetzt wieder einkehrte, umarmte mit ihrem Gefieder Mensch und Tier und ließ alle in eine wohlige Ruhe versinken. Unbeirrt schob sie ihr lautloses Weberschiffchen zwischen den beiden Menschen hin und her und vertraute darauf, dass dieser Teppich, der da aus zarten Daunenfedern entstand, sie dereinst in die Lüfte heben und auch tragen würde.
Nach einer Weile, die eine Minute oder zwei, aber auch eine Stunde hätte sein können, sagte Aude: »Du, Tom? Können wir auch einfach so weiter sein und das mit den Musikbändern ein anderes Mal machen? Ich würde jetzt gerne noch eine Weile so mit dir dasitzen und dir beim Erzählen zuhören.«
die Welt auf einem Stecknadelkopf
Büttenhardt, 2011
Nach und nach entwirrte sich der Faden, und Aude gewann ein Bild ihrer eigenen Herkunft; es war ein buntes Muster. Ihr Stammbaum wuchs gleichermaßen in die Länge und in die Breite. Sie hatte bereits weit über zweihundert Namen, Orte und Schicksale gesammelt und logisch aufbereitet in Files, die sie auf eine DVD für Aurelio aufspielen wollte. Aber noch war sie nicht so weit. Noch trudelten von hier und dort Briefe von Verwandten oder beauftragten Ahnenforschern ein mit Hinweisen, denen sie nachgehen musste. Ach, es war eine endlose Sache, über die Aude ihre Vögel beinahe vergaß.
Aber noch etwas trug dazu bei, dass ihr die Vögel dieser Tage aus ihrem Bewusstsein entflogen: ihr Umzug nach Büttenhardt. Tom hatte das Angebot eines Freundes angenommen, für ein Jahr dessen Bauernhaus zu bewohnen. Dieser Freund, ein leidenschaftlicher Sammler von Musikinstrumenten, wollte die Welt umreisen und dabei die Tonleitern fremder Völker erforschen. Sein Haus stand seit über hundert Jahren in Familienbesitz und sollte derweil weiter gehegt und gepflegt werden. Und Tom, der noch immer nicht wusste, was er mit den neun schwarzen Katzen anfangen wollte, brauchte nicht lange zu überlegen. Für ihn war dies die Gelegenheit. Zeit gewinnen. Die Katzen vorerst behalten.
Alles hatte sehr schnell gehen müssen, und so hatte Aude beherzt zugegriffen, als er ihr die Hand entgegengehalten hatte. »Wenn du herausfinden willst, ob du mit mir zusammensein willst, dann komm. Mach Feldforschung. Probier es
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