Die Ruinen von Gorlan
nervös«, sagte Alyss begütigend. Sie schenkte Will eines ihrer seltenen Lächeln. »Es wäre dumm, nicht nervös zu sein.«
»Tja, ich bin es jedenfalls nicht!«, widersprach Horace und lief dann rot an, als Alyss eine Augenbraue hob und Jenny kicherte.
Typisch Alyss, dachte Will. Er wusste, dass dem hoch gewachsenen, anmutigen Mädchen bereits ein Platz als Schülerin bei Lady Pauline, der Vorsteherin des Diplomatischen Dienstes von Redmont versprochen war. Ihre Behauptung, dass sie wegen des nächsten Tages nervös sei, und ihr Takt, nicht auf Horaces Schnitzer herumzuhacken, zeigte, dass sie bereits sehr gute diplomatische Fähigkeiten besaß.
Jenny würde natürlich sofort der Küche zugeteilt werden, dem Reich von Meister Chubb, Redmonts Küchenchef. Er war ein Mann, der im ganzen Königreich für seine Bankette berühmt war. Jenny liebte Essen und Kochen und war mit ihrem offenen Wesen und der stets guten Laune im geschäftigen Treiben der Burgküche gewiss sehr willkommen.
Horaces Wahl war zweifellos die Heeresschule. Will blickte jetzt auf den Jungen, der ein Mündel war wie er selbst und der gerade hungrig den gebratenen Truthahn, Speck und Kartoffeln von seinem Teller in sich hineinschaufelte. Horace war groß für sein Alter und sehr athletisch. Die Möglichkeit, dass er abgewiesen wurde, gab es praktisch nicht. Horace entsprach genau den Vorstellungen, die Sir Rodney von einem Heeresschüler hatte – er war stark, athletisch und in bester körperlicher Verfassung. Und, ergänzte Will in Gedanken sarkastisch, nicht allzu helle. Die Heeresschule war für Jungen wie Horace, der nicht von adeliger Abstammung war, der einzige Weg, um später als Ritter dem Königreich zu dienen.
Blieb nur noch Will. Was sollte er wählen? Noch wichtiger – wie Horace schon treffend angemerkt hatte –, welcher Zunftmeister würde ihn als Lehrjungen annehmen?
Denn der Wahltag war der Wendepunkt im Leben der Mündel. Sie waren Waisen, die aufgrund der Großherzigkeit von Baron Arald, dem Herrn von Gut Redmont, aufgezogen wurden. Meist waren ihre Eltern im Dienst für den Lehnsherrn gestorben, und der Baron sah es als seine Pflicht an, für die Kinder seiner Untergebenen zu sorgen und es ihnen zu ermöglichen, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Der Wahltag bot diese Gelegenheit.
Jedes Jahr konnten Mündel, die fünfzehn Jahre alt wurden, sich darum bewerben, als Lehrlinge bei den Meistern der verschiedenen Zünfte angenommen zu werden. Normalerweise traten Kinder in die Fußstapfen ihrer Eltern. Die Mündel hatten diese Möglichkeit natürlich nicht und so war der Wahltag für sie die Chance, einen Beruf ihrer Wahl zu erlernen.
Jene Mündel, die bei keinem der Zunftmeister unterkamen, wurden bei Bauersleuten im nahe gelegenen Dorf untergebracht. Will wusste, dass dies nicht oft passierte. Der Baron und seine Zunftmeister bemühten sich normalerweise sehr, die Mündel zu vermitteln. Aber hin und wieder kam es dennoch vor, und dieses Schicksal fürchtete Will mehr als alles andere.
Horace fing seinen Blick auf und grinste ihn selbstgefällig an. »Hast du immer noch vor, dich für die Heeresschule zu bewerben, Will?«, fragte er mit vollem Mund. »Dann solltest du lieber was essen. Dafür musst du nämlich noch ein wenig stärker werden.«
Er ließ ein schnaubendes Lachen hören und Will sah ihn böse an. Vor ein paar Wochen hatte Horace mit angehört, wie Will Alyss anvertraute, dass er sehr gerne zur Heeresschule ginge. Seither hatte Horace keine Gelegenheit versäumt, Will darauf hinzuweisen, dass er mit seiner schmalen Statur völlig ungeeignet für den harten Drill der Heeresschule war.
Dass Horace wahrscheinlich sogar Recht hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Im Gegensatz zu dem großen und muskulösen Horace war Will klein und drahtig. Er war gelenkig, schnell und überraschend stark, aber er hatte einfach nicht die Größe, die – wie er wusste – von einem Heeresschüler verlangt wurde. Während der letzten Jahre hatte er immer gehofft, dass der so genannte Wachstumsschub noch vor dem Wahltag käme. Doch dieser Wunsch hatte sich leider nicht erfüllt und jetzt stand genau dieser Tag vor der Tür.
Da Will nichts erwiderte, merkte Horace, dass er mit seiner Bemerkung einen Treffer gelandet hatte. Das war eine Seltenheit in ihrer turbulenten Beziehung. Während der vergangenen Jahre waren er und Will immer wieder aneinander geraten. Horace war der Stärkere von beiden und hatte Will meist
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