Die Runen der Erde - Covenant 07
deutlich, als sei er aus Sonnenfeuer geätzt. Wasser lief wie Tränen über die Trümmerlandschaft seines Gesichts; er hustete, als hätte er zu viel Blut geschluckt.
Heilerde hatte ihr die Schönheit des Landes zurückgegeben. Und ohne Frage war Anele voller Erdkraft; daran konnte nun kein Zweifel mehr bestehen. Ihre Vitalität schimmerte in jeder Linie seiner ausgemergelten Gliedmaßen, jeder Falte seines misshandelten Gesichts. Und Heilerde war ebenfalls Erdkraft, ein unstrittiges Beispiel für Heilung und Herrlichkeit. Sie hätte ihn wie eine Verkündigung ins Licht heben müssen. Die Schmerzen, die er durch sie erlitten hatte, standen jedoch im Widerspruch zu ihrem eigentlichen Wesen.
Jetzt sah Linden, dass die Heilerde doch nicht zu stark für ihn gewesen war. Sie hatte ihren natürlichen Effekt bewirkt. Aber die ihr innewohnenden Energien waren zu einem Bestandteil seines Wahnsinns geworden und hatten so seiner Genesung entgegengewirkt. Zum Glück hatte sie ihm keinen bleibenden Schaden zugefügt.
Liand, der sein Lasso rasch wieder aufrollte, verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit: »Linden Avery, hör mir zu.«
Aber das tat sie nicht. Sie sah nur Anele. Er stank nach dem Verächter. Lord Foul hielt sich jedoch im Hintergrund, ließ dem Alten so viel Freiheit, dass er keuchend und hustend nach Atem ringen konnte. Linden stellte fest, dass sie nun differenzierter zwischen der Gegenwart des Verächters und Aneles Geistesgestörtheit unterscheiden konnte. Aber jetzt nahm sie auch andere Dinge wahr. Sie sah deutlich, dass der Verächter keinen Einfluss auf Aneles Bewusstseinsphasen hatte, nicht willkürlich von ihm Besitz ergreifen konnte. Stattdessen nützte er nur eine Lücke in dem Wall, den der Alte um sich errichtet hatte, um seinen tiefen Schmerz zu schützen. Und diese Lücke wechselte und veränderte sich mit den unerklärlichen Schwankungen von Aneles mentaler Verfassung. Linden hatte keine Ahnung, wie das möglich war. Ihr Sinn für das Gesunde reichte nicht so tief – nicht jetzt, wo Anele und sie psychisch getrennt waren. Wollte sie seine Qualen wirklich begreifen, würde sie sich ganz in ihn hineinversetzen, in seine fundamentale Beziehung zum eigenen Ich eindringen müssen. Solche Dinge hatte sie vor langer Zeit schon einmal getan und wusste, was sie kosteten.
»Linden Avery«, drängte Liand, »hörst du mich nicht? Ist das Wahnsinn?«
Sie hätte Liand gegenüber taub sein können. Seine Stimme konnte ihr Bewusstsein für Aneles Notlage nicht durchdringen. Aber als sie sich dem Steinhausener zuwandte, sah sie auch ihn ganz deutlich.
Er war ein kräftiger junger Mann, derb und gesund – voll von der eher gewöhnlichen Gesundheit der Sterblichen des Landes, die durch Erdkraft genährt und erhalten, aber nicht von ihr verwandelt wurden. Er würde nicht lange genug leben, um unwahrscheinlich alt zu werden oder Jahrzehnte bitterster Entbehrungen durchzumachen, wie es Anele getan hatte. Und er enthielt keinerlei Spur des Verächters. Stattdessen strahlte er Aufrichtigkeit und Sehnsucht aus. Seine Gesichtszüge sprachen von einer Erregung, die rasch in Besorgnis umschlug. Er war genau das, als was er ihr erschienen war, als sie zuvor mit ihm gesprochen hatte: ein ehrlicher junger Mann, zu Mut und Aufopferung imstande und weitgehend unerfahren. Nichts an seiner Aura oder seinem Verhalten ließ darauf schließen, dass er Lord Fouls Gegenwart spüren konnte.
»Habt ihr die Absicht zu fliehen?«, fragte er drängend. »Warum zögert ihr dann hier?«
Sein Pferd teilte seine angeborene, aus dem Land entstammende Vitalität, seine Fähigkeit, Unbilden zu ertragen ... und seine offenkundige Blindheit gegenüber der Nähe des Bösen. Es war jedoch nicht völlig heil. Irgendwann war es unbeholfen gestürzt und hatte sich Narben, die im Brustfell noch schwach erkennbar waren, und einen Lungenriss zugezogen. Das gescheckte Pferd mochte ebenso willig sein wie Liand, aber ihm fehlte seine Ausdauer.
Und über ihnen allen spannte sich der Himmel wie ein Gewölbe aus Kristall: Er schien auf der Tonhöhe seiner essenziellen Reinheit wie ein Glockenspiel zu erklingen. Anfangs entdeckte Linden keine Spur von Kevins Schmutz, aber als sie ihre Sinne genauer auf die Erinnerung an dieses erstickende gelbe Leichentuch eingestellt hatte, schmeckte sie ihn ganz schwach über sich: fern und verschwommen wie ein dünner Film aus Unrecht auf der frischen Reinheit der Luft. Er war noch immer da.
Irgendwann würde er sie wieder
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