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Die Runen der Erde - Covenant 07

Die Runen der Erde - Covenant 07

Titel: Die Runen der Erde - Covenant 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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ein unsicheres Gleichgewicht erreicht hatte, nahm sie den Wasserschlauch mit und wankte wie ein menschliches Wrack durch die von Schmelzwasser ausgewaschenen Tröge zwischen den Felsen zu Anele hinüber. Er wandte ihr nicht den Kopf zu, als sie näher kam; man hätte glauben können, er sei sich ihrer Anwesenheit nicht einmal bewusst. Als sie ihm jedoch den Wasserschlauch über die Knie legte, hob er ihn automatisch an den Mund und trank daraus, ohne mit der blicklosen Betrachtung der Felswand aufzuhören.
    Linden unterdrückte ein Ächzen, als sie sich auf einem Felsbrocken in seiner Nähe niederließ. Eine leichte Brise wehte bergab, und das Säuseln überdeckte Aneles Stimme; dass er sprach, wusste Linden nur, weil seine Lippen sich bewegten. Sie machte noch einen Augenblick Pause, um sich zu sammeln. Dann fragte sie leise: »Anele, was siehst du?«
    Er antwortete nicht gleich. Vielleicht konnte er nicht sprechen; seine Konzentration glich einer Trance: Er hätte unter einem Zauber stehen, von Worten gefesselt sein können, die nur er hören konnte. Er hielt den Kopf schief, als könnte er so besser hören; dann jedoch erschauderte er, und Lindens Sinne nahmen kummervollen Zorn wahr.
    »Diese Steine sind alt.« Seine knappe Handbewegung umfasste das Geröllfeld ebenso wie die Steilwand. »Selbst nach den uralten Maßstäben der Berge alt. Sie wissen nichts von Zäsuren. Oder von Meistern.« Seine Stimme nahm allmählich einen Tonfall an, den Linden bisher nicht kannte: einen Rhythmus, in dem Musik und Bitterkeit anklangen. »Sie sprechen vielmehr von großen Wäldern, von denen das Land einst bedeckt war. In ihrem Herzen beklagen sie den Verlust der Bäume.«
    Er ist die Hoffnung des Landes.
    Linden beugte sich zu ihm hinüber. »Erzähl es mir«, flüsterte sie.
    »Ihr Kummer ist nicht meine Schuld«, beteuerte er, als antworte er auf eine Anschuldigung, die so alt war, dass ihre Bedeutung längst verloren gegangen war. »Wenigstens das bleibt mir erspart. Dieser Schmerz ist wahrhaft steinalt; die Steine vergessen nichts und hören nie zu klagen auf. Hier stehen die Pracht und das Niedermetzeln des Einholzwaldes beschrieben.«
    Des Einholzwaldes? Diesen Namen hatte sie schon gehört; sie konnte sich aber nicht vorstellen, weshalb die Steine sich an das vorübergehende Dasein von Holz erinnern sollten. Trotzdem lechzte sie nach allem, was Anele erzählen konnte, weil es ihr vielleicht dabei helfen würde, die Notlage des Landes zu verstehen, um dagegen angehen zu können.
    »Erzähl es mir«, wiederholte sie leise.
    Liand kam über das Geröll heran, um seinen Gefährten etwas Brot anzubieten, aber Anele ignorierte ihn. Doch nachdem Linden sich ihr Stück genommen hatte, kam Anele ihrer Aufforderung nach, als nötige ein Klagelied in Granit ihn zum Reden. »Es ist eine Geschichte von Menschheit und Zerstörung, von wehrloser Schönheit, die missachtet, aus dem Leben gerissen wurde. Eine Geschichte von Wüterichen und Elohim und Forsthütern und Schlaf, dem tödlichen Schlaf von langer Zeit und völligem Verlust.« Der Steilwand zugewandt ließ Anele seinem Zorn freien Lauf. Er beugte den Kopf erst zu einer Seite, dann zur anderen hinüber, als höre er auf ein Lied, das um ihn herum von Stein zu Stein ging. »Damals gab es noch keine Männer und Frauen im Land, und weder Bäume noch Steine hatten irgendwelche Kenntnis von ihnen. Vielmehr war dies ein Zeitalter der Bäume – empfindungsfähig und großartig, von den Bergen geliebt –, und der Einholzwald bedeckte das Land. Sein weiter Lebensraum erstreckte sich vom steinalten Melenkurion Himmelswehr im Westen bis zur rastlosen Brandung des Meeres der Sonnengeburt im Osten, von der eisbedeckten Wildnis der Nordlandhöhen bis zur steilen Barriere des Südlandrückens. Nur an den Rändern des Lebensverschlingers wich der Einholzwald beiseite, denn sogar in jenem goldenen Zeitalter sickerten Böses und Finsternis aus dem Gravin Threndor, leckten Übel und Bösartigkeit in den Großen Sumpf. Und in jenem Zeitalter wurden die weiten Wälder von allen Gipfeln, von jedem gewachsenen Fels des Landes in Ehren gehalten, von dem Granit unter ihm und an seinen Rändern und als Kostbarkeit verehrt, weil der Einholzwald sich selbst kannte. Er wusste nichts von Heimtücke oder der Menschheit, aber sein Bewusstsein von sich selbst war uneinschätzbar gewaltig. Er kannte sich selbst in jedem Stamm und Ast, in jeder Wurzel und jedem Blatt und sang sein weit verzweigtes Lied dem

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