Die Runen der Erde - Covenant 07
eilig zu haben weiterzukommen. Er war unruhig geworden, scharrte mit den Füßen im Geröll. Dann machte er sich an den Aufstieg, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen. Linden seufzte, biss die Zähne zusammen und folgte ihm.
Für sie wurde der Aufstieg jetzt schwieriger. Auf dem Geröllfeld mit schiefrigen Platten und losen Steinen konnte man leicht stürzen, sich vielleicht sogar den Knöchel brechen. Andererseits stellte sie fest, dass sie nun die Hände zu Hilfe nehmen konnte, um Steilstellen zu überwinden. Ließ sie die Wolldecke einfach über ihren Schultern hängen, konnten die Arme ihre müden Beine etwas entlasten. So gelang es ihr in der ersten Zeit, mit Anele, Liand und Somo Schritt zu halten. Sie schürfte sich die Hände auf; schlug sich ihre frisch verheilten Ellbogen und Schienbeine an. Die dünner werdende Luft brannte in ihrer Lunge, bis Phosphene ihr Sehvermögen willkürlich beeinträchtigten, indem sie Felsblöcke und eingeklemmte Steine in psychedelisch bunte Wirbel auflöste, um sie dann wieder zu Granit, Schiefer, Obsidian, Feldspat und Quarz werden zu lassen. Aber sie rief sich Jeremiahs Bild in Erinnerung und stieg verbissen weiter. Schließlich aber, auf halbem Weg zu der Kluft, begann sie, hinter Liand und Anele zurückzubleiben. Die Decke rutschte ihr von den Schultern, aber Linden merkte es nicht. Das Zittern in ihren Beinen erfasste nun auch Brust und Arme, und wenig später fing sie an, jeden Schritt als Einzelereignis zu betrachten: zeitlich von dem vorhergegangenen und dem darauf folgenden Schritt getrennt. In diesem Augenblick existierte für sie nichts anderes als die ungeheure Anstrengung, die es kostete, diesen einen Schritt zu machen.
Irgendwann entdeckte sie, dass ihre Beine nicht mehr zitterten und ihre Wange auf einer glatt geschliffenen Steinplatte lag. Glimmerflocken leuchteten im Sonnenlicht, aber sie konnte sie kaum von den durch Sauerstoffmangel erzeugten Lichtpunkten vor ihren Augen unterscheiden. War die Luft schon so dünn? Und warum wärmte die Sonne diese Felsen nicht mehr? Sie schien ihre kühle Berührung zu genießen, aber sie konnte sie nicht verstehen. Irgendwas war nicht in Ordnung, das wusste sie, aber sie konnte es nicht enträtseln, bis Liand sie an den Armen packte und hochzog. »Komm, Linden«, keuchte er halblaut, »bis zur Kluft ist es nicht mehr weit, bald kannst du rasten.« Erst jetzt merkte sie, dass sie aufgehört hatte, sich zu bewegen. Ihre Beine mussten ohne ihr Wissen, ohne ihre Zustimmung versagt haben. Von Erschöpfung benommen, ließ sie sich von Liand hochziehen.
Anele schien verschwunden zu sein – vielleicht durch einen Ausbruch von Erdkraft bergauf und durch die Kluft katapultiert –, aber Somo stand in der Nähe. Der Schecke hatte Schaumflocken an den Nüstern; auch seine Brust hob und senkte sich in angestrengtem Keuchen. Trotzdem war er noch in weit besserer Verfassung als Linden.
Jeremiah.
Sie wollte um ihn weinen, aber sie hatte keine Tränen.
»Hier«, sagte Liand, der mit einer Zuversicht sprach, die er offenbar nicht empfand. Er legte ihre Hand auf einen der Lederriemen, mit denen die Bündel am Sattel befestigt waren. »Halt dich hier fest. Somo kann dich mitziehen. Es ist nicht mehr weit. Gleich hinter der Kluft können wir rasten.«
Ihre Finger schlossen sich gehorsam um den Riemen. Vielleicht nickte sie auch; das wusste sie nicht. Wie ihre Beine schien ihr Hals jetzt aus eigenen Gründen zu zittern, aber Linden war so benommen, dass sie diese Bewegungen nicht mehr wahrnahm. Danach verschwammen die Einzelanstrengungen, die sie zuletzt definiert hatten, und sie stieg weiter, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein: von Somos Kraft und Liands Mut in die Höhe gezogen. Sie wusste nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie musste stärker werden.
*
Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Schatten einer Steilwand zwischen zwei Felsblöcken – einer in der Nähe ihres Kopfes, der andere einen Steinwurf von ihren Füßen entfernt. Hoch über ihr stand weiter die Sonne am Himmel, würde noch einige Zeit über dem durch Gipfel begrenzten Horizont bleiben; aber wo Linden lag, herrschte tiefster Schatten, und sie schien all ihren Mut verloren zu haben.
Liand stand in der Nähe und beobachtete sie; er versuchte nicht, seine Besorgnis zu verbergen. Als ihre Blicke sich endlich begegneten, kniete er bei ihr nieder und führte ihre Hand behutsam an einen Wasserschlauch. Dann griff er unter ihre Arme, um ihr zu helfen,
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