Die Runen der Erde - Covenant 07
durchgehalten werden zu können; aber um ihn machte sie sich keine Sorgen. Sein einziger Freund ist der Stein. Er hatte jahrzehntelang auf den Ebenen und im Gebirge überlebt. Selbst jetzt noch war seine Überlebenschance vermutlich weit besser als die ihre.
Als sie auf Staves Füße hinunterblickte, ängstigte deren flinke Trittsicherheit sie. Stolperte er, würde er – mit ihr unter sich – auf die scharfkantigen Steine fallen. Um ihm seine Aufgabe etwas zu erleichtern, schlang sie ihm einen Arm um den Hals und richtete dann ihren Blick nach hinten, wo bald die ersten Kresch auftauchen mussten.
In Staves Armen kam Linden schnell voran, gewann an Höhe, als bewege sie sich rückwärts durch die Zeit. Bei jedem Schritt berührten die Füße des Haruchai Erinnerungen, die nur Anele wahrnehmen konnte; er trug sie über Bruchstücke von Liedern, Fragmente von Klagen höher hinauf. Kein Wunder, dass Anele verrückt war. Solche Musik musste jeden wahnsinnig machen.
Covenants Ring hüpfte an seiner Kette vor Lindens Brust auf und ab, schien sie mit seiner geheimen Macht zu verspotten. Thomas Covenant hätte gewusst, wie er ihn anwenden musste, um seine Gefährten zu retten. Linden hatte ihn in der Apotheose des Sonnenfeuers gesehen, als er Quelle und Nahrung des Sonnenübels bezwungen hatte, obwohl seine Adern voll von Lord Fouls Gift gewesen waren. Trotz seiner Selbstzweifel hatte er Leidenschaft und Beherrschung genug aufgebracht, um ein seit vielen Generationen andauerndes Blutvergießen zu beenden. Später hatte er dieser Macht jedoch abgeschworen, hatte sich geweigert, sich gegen Lord Foul zu verteidigen. In ihren Träumen hatte Thomas Covenant Linden ermahnt, auf sich selbst zu vertrauen – aber trotzdem glaubte sie nicht, dass sie imstande sein würde, eine Flamme heraufzubeschwören, die ein Rudel Wölfe in die Flucht schlagen konnte. Als einige Minuten verstrichen waren, ohne dass Kresch aufgetaucht waren, griff Linden mit der freien Hand nach dem Ring und steckte ihn wieder in ihre Bluse. Covenant hatte ihn ihr hinterlassen, aber sie konnte nicht behaupten, ihn wirklich zu besitzen.
Liand versuchte, mit Stave Schritt zu halten, aber das konnte er nicht; Somo hielt ihn auf. Gewiss war der Mustang bergerfahren und trittsicher, aber in dem lockeren Geröll musste er sich vorsichtig bewegen. Linden, die selbst in den Armen des Haruchai durchgerüttelt wurde, keuchte: »Warte auf Liand. Wir müssen zusammenbleiben.« Wenn Kresch auf ihrer Fährte waren, hätte sie nicht einmal einen Meister zurückgelassen.
Sie rechnete nicht damit, dass Stave ihrer Bitte Folge leisten würde. Bisher war er nur höchst selten auf ihre Wünsche eingegangen. Trotzdem verlangsamte er sein Tempo jetzt um Liands willen. Anscheinend nahmen sein Volk und er ihre Vormundschaft über das Land ernst. Als Liand und Somo zu ihnen aufgeschlossen hatten, passte Stave seinen Schritt dem ihren an, während es Anele gelang, seinen Vorsprung zu halten. In dieser Formation strebten sie weiter bergan, und Linden hatte den Eindruck, die Erzählung des Alten und die Erinnerung der Steine an den Einholzwald zögen sie hinauf. Immer wieder suchte Linden den Horizont des Geröllfelds unter sich nach Gefahren ab. Stave hatte sie ungefähr ein Viertel des Felssturzes hinaufgetragen – vielleicht eher etwas weniger –, und Linden konnte noch immer keine Wölfe sehen. Trotzdem zweifelte sie nicht daran, dass bald die ersten Kresch durch die Kluft kommen würden.
Doch Liand war anscheinend anderer Meinung. Trotz der Anstrengung kaum merklich außer Atem, führte er Somo dichter an Stave und Linden heran. »Ich bin beunruhigt, Meister«, sagte er nervös. »Ihr bezeichnet euch als Hüter des Landes, und ihr habt Linden Avery aus weit zurückliegender Vergangenheit erkannt.« Das Misstrauen auf seinem Gesicht war selbst hier im Schatten für Linden sichtbar. Seine frühere Schüchternheit gegenüber dem Haruchai schien von ihm abgefallen zu sein. »Trotzdem bist du ihr allein zu Hilfe gekommen. Du verbirgst viele Geheimnisse. Willst du nicht eines davon in Gegenwart der Auserwählten preisgeben? Warum bist du allein gekommen, um sie zu beschützen?«
Stave gab einen Laut von sich, der einem kurzen Schnauben glich. Linden spürte neue Kraft durch seinen Körper fluten, und er vergrößerte sekundenlang seinen Vorsprung vor Liand. Nie mehr gutzumachende Verbrechen glitten unter seinen Füßen vorbei; aber dann schien er sich die Sache anders zu überlegen.
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