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Die Runen der Erde - Covenant 07

Die Runen der Erde - Covenant 07

Titel: Die Runen der Erde - Covenant 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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voller Details wie Balkons und Erkertürmchen, sondern auch gänzlich symmetrisch, in allen Teilen ausgewogen. Seine Eigenartigkeit in ihrer kleinen Diele, die für gewöhnlichen Durchgangsverkehr bestimmt war, verlieh ihm etwas Unheimliches, als sei irgendein Märchenschloss aus seinem eigenen Zauberreich halb hierher versetzt worden und lasse sich an seinen Umrissen aus schlanken Stäben und Scheiben wie durch einen Blick in eine andere Dimension erahnen. Bei Mondschein betrachtet hätte es undeutlich und verschwommen wie der Stoff gewirkt, aus dem Träume waren.
    Was es vielleicht wirklich war. Jeremiahs Träume blieben ihr – wie er selbst – letzten Endes verschlossen. Nur solche kunstvollen Bauwerke und andere Gebilde lieferten ihr gewisse Hinweise auf die Visionen, die seinen Kopf füllten, sein geheimes Leben definierten.
    »Sandy?«, rief sie. »Jeremiah? Ich bin wieder da.«
    »Hi«, antwortete Sandy. »Wir sind im Wohnzimmer.« Dann fügte sie hinzu: »Jeremiah, deine Mutter ist wieder da.«
    Zu den Dingen, die Linden an Sandy am meisten schätzte, gehörte ihre Angewohnheit, Jeremiah stets so zu behandeln, als sei er ansprechbar. Lächelnd schlängelte sich Linden zwischen den Türmen hindurch ins Wohnzimmer. Sandy legte ihr Strickzeug weg, als sie hereinkam. »Hi«, sagte sie noch mal. »Wir wollten die Legosteine aufräumen, aber ich dachte, du solltest sehen, was er gebaut hat.« Ihre Handbewegung umfasste das Wohnzimmer, als sei sie stolz darauf, was ihr Schützling erschaffen hatte.
    Linden war Jeremiahs Projekte gewöhnt. Trotzdem blieb sie diesmal stehen und starrte sein Werk wie vor Schock gelähmt an. Im ersten Augenblick konnte sie die Bedeutung des Gesehenen gar nicht richtig abschätzen.
    Sandy saß in einer Ecke des Wohnzimmers in einem Sessel. Ihr gegenüber kniete Jeremiah auf dem Fußboden, wie er es meistens tat, wenn er nicht beschäftigt war: beide Füße nach außen gedreht, die Arme so vor der Brust verschränkt, dass die Hände verschwanden, sein Oberkörper in sanft schaukelnder Bewegung.
    Und zwischen den beiden ...
    Vom Fußboden über das mitten auf den Teppich gerückte Sofa hatte er aus Legosteinen einen Berg nachgebildet. Trotz der unwandelbar rechteckigen Form der Bausteine und ihrer kompromisslosen Primärfarben war das Gebilde unzweifelhaft ein Berg mit zerklüfteten Schluchten, die sich über seine Flanken bis zu den Ausläufern hinunterzogen, und schroff aufragenden Felswänden. Gleichzeitig sah er wie ein Titan aus, der vor dem Sofa kniete, die Ellbogen auf die Sitzfläche stützte und den Schädel trotzig gen Himmel reckte. Zwischen seinen Beinen tat sich bis dorthin, wo seine Waden in den Teppich übergingen, ein Canyon auf. Das gesamte Bauwerk reichte Linden bis fast zu den Schultern.
    Der Berg oder Titan war dem Sofa zugewandt, und dort war Jeremiah ebenfalls am Werk gewesen. Er hatte eines der Sitzpolster so zurechtgerückt, dass eine Ecke nach außen ragte. Indem er sie als Vorgebirge nutzte, hatte er bis zum Fußboden hinunter eine weitere Burg erbaut. Diese hier unterschied sich jedoch grundlegend von dem hoch aufragenden luftigen Bauwerk in der Diele. Sie erschien wie eine keilförmige Verlängerung der Sitzpolsterecke – ein Keil, der ausgehöhlt worden war, um bewohnbar zu sein. In seine hohen Wände waren winzige Fenster, geschickt angeordnete Wehrgänge und von Zinnen gekrönte Brustwehren eingelassen, die trotz des ungefügen Materials, aus dem sie bestanden, so realistisch wirkten, als seien sie aus dem Gedächtnis erschaffen. Und an der Spitze des Keils erhob sich ein massiver Wachtturm, fast halb so hoch wie der Keil selbst, der durch einen von Wällen umgebenen Vorhof mit der Hauptburg verbunden war. Unten am Turm sowie am Fuß der eigentlichen Feste hatte Jeremiah tunnelförmige Eingänge mit Toren gebaut, die sich wie zuschnappende Fangeisen schlossen.
    »Jeremiah ...« Linden stockte unwillkürlich der Atem. »Oh, Jeremiah!« Alle ihre Ängste kehrten schlagartig zurück, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als müsse sie daran ersticken. Diese Gebilde hatte sie schon früher gesehen. Sie erkannte sie wieder, obwohl sie aus bunten Plastikbausteinen, die nur glatte Seiten und rechte Winkel aufwiesen, erbaut waren. Die Darstellung war zu realistisch, als dass Zweifel möglich gewesen wären. Das Bergmassiv war der Donnerberg, der uralte Gravin Threndor, dessen Tiefen voller Schrathöhlen und verschüttetem Bösen waren. Und das burgartige Schloss

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