Die Runen der Erde - Covenant 07
bemühte sich, so überzeugend wie möglich zu sein. »Er hat klargemacht, dass er nicht warten will, bis er das Sorgerecht zugesprochen bekommt. Entlasse ich Joan nicht, will er sie gewaltsam mitnehmen.«
»Mitnehmen?« Lyttons Tonfall klang ungläubig.
»Entführen, Sheriff. Aus der Klinik verschleppen.«
»Dass ich nicht lache!« Er schnaubte verächtlich. » Wohin mitnehmen? Er will auf der Haven-Farm leben. Wahrscheinlich ist er gerade dabei, die Betten frisch zu beziehen. Nehmen wir mal an, Sie hätten recht. Nehmen wir mal an, er würde sie aus Ihrer herrlichen ›Klinik für Psychiatrie‹ herausschmuggeln, während Bill Coty eines seiner ständigen Nickerchen macht. Eine halbe Stunde später rufen Sie mich an. Ich schicke einen Deputy los, der Roger Covenant daheim auf der Haven-Farm antrifft, wo er seine Mutter mit Haferschleim füttert und ihr das Kinn abwischt, wenn sie sabbert. Das ist keine Entführung, Doktor. Das ist eine Peinlichkeit .« Dem Sheriff schien der eigene Sarkasmus Spaß zu machen. »Für Sie vielleicht mehr als für ihn. Und jetzt sagen Sie mir die Wahrheit. Haben Sie mich wirklich deswegen angerufen? Sie fürchten, Roger Covenant könne seine eigene Mutter entführen? Wissen Sie, was ich glaube, Doktor? Sie arbeiten schon zu lange in dieser Klinik. Sie fangen an, wie Ihre Patienten zu denken.«
Noch ehe Linden antworten und dem Sheriff seinen Irrtum erklären konnte, hatte Lytton bereits aufgelegt.
3
Trotz ihrer Gegenwehr
Zum Teufel mit diesem Kerl.
Linden tobte innerlich. Lytton hatte unrecht: Roger Covenant war kein »netter junger Mann«. Er war gefährlich. Und Joan war nicht sein einziges potenzielles Opfer. Aber ihre Empörung bewirkte nichts, schützte niemanden, und nach wenigen Minuten verdrängte Linden sie wieder. Der Sheriff konnte nicht ahnen, welchen Preis seine Geringschätzung fordern könnte. Er war niemals dazu aufgerufen worden, in einer Welt außerhalb seines Vorstellungsvermögens den Kampf gegen die Verzweiflung aufzunehmen. Ihm fehlten das Wissen und die Erfahrung, um wirkungsvoll reagieren zu können.
Aber obwohl sie es vorzog, eine Entschuldigung für ihn zu finden, klang ihr Zorn keineswegs ab, lag fest wie ein Klumpen mitten in ihrer Brust.
Zum Teufel mit diesem Sheriff!
Das Jahr in der ›Gemeinde der Vergeltung‹ musste ihm gewaltig geschadet haben – und natürlich war er von seinen Großeltern wie zuvor von seiner Mutter zur Schwäche erzogen worden.
Wozu um Himmels willen wollte er Covenants Ring? Gelang es ihm irgendwie, Joan zu sich zu holen, würde ihm auch ihr Ehering in die Hände fallen. Er bestand ebenfalls aus Weißgold, war im Prinzip nicht von dem ihres Ehemanns zu unterscheiden. Bestimmt kam es auf das Weißgold selbst an, jene für wilde Magie besonders geeignete Legierung, und nicht auf ein spezielles Stück dieses Metalls. Welchen Unterschied konnte es machen, wessen Ring Roger trug, wenn er Joans Platz einnahm?
Thomas Covenant hätte das wahrscheinlich gewusst. Linden wusste es nicht. Konnte es sein, dass Lytton recht hatte? Schätzte sie Roger falsch ein? Nach gewöhnlichen Maßstäben klang diese Erklärung vernünftiger. Außer Linden hätte jeder, wirklich jeder, sie fraglos akzeptiert. Und, so dachte sie weiter, es gab mindestens einen weiteren Grund dafür, ihre Auffassung für falsch zu halten: einen Grund, über den sie bisher noch nicht hatte nachdenken können.
Sie ließ ihren Ärger im Büro zurück und ging auf die Personaltoilette, um sich das Gesicht zu waschen. Bei abgesperrter Tür und mit von kaltem Wasser brennenden Wangen betrachtete Linden ihr nasses Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken. Sie war keine Frau, die ihr Aussehen häufig begutachtete, doch wenn sie es tat, amüsierte oder verwirrte sie manchmal, was sie im Spiegel sah. Diesmal jedoch erschrak sie fast über die Sorge, die ihren Blick trübte. Sie hatte den Eindruck, in den letzten Stunden um Jahre gealtert zu sein.
In mancher Beziehung hatte das vergangene Jahrzehnt sie merklich verändert. Ihr Haar hatte sich seinen weizenblonden Glanz größtenteils bewahrt, war nur an den Schläfen mit Grau durchsetzt. Die strukturelle Harmonie unterhalb ihrer Gesichtszüge ließ sie trotz ihrer Jahre attraktiv wirken, noch immer blendend aussehen. Sie hatte, was Männer als gute Figur bezeichneten – voller Busen, schmale Taille, betonte Hüften, kein überflüssiges Gewicht –, auch wenn diese Weiblichkeit ihr unnötig erschienen war, bis
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