Die Runen der Erde - Covenant 07
sie Thomas Covenant kennen und lieben gelernt hatte. Bei richtiger Beleuchtung glänzten ihre Augen ausdrucksvoll.
Aber ihre einst so zierliche Nase trat deutlicher hervor als früher, wurde durch zwei zu den Mundwinkeln hinablaufende scharfe Falten betont. Diese Falten schienen ihre Züge nach unten zu ziehen, sodass ihr Lächeln oft mühsam wirkte. Und die Falte zwischen den Augenbrauen glättete sich nie; anscheinend runzelte sie selbst im Schlaf von ihren Träumen beunruhigt die Stirn.
Hätte sie ihr Gesicht gestern begutachtet, wäre sie vermutlich trotzdem zu dem Schluss gelangt, sie trage nicht schwer an ihren Jahren. Ihre Zeit mit Thomas Covenant und ihre Jahre mit Jeremiah hatten ihr Einsichten über Liebe und Glück gebracht, die ihr zuvor unbekannt gewesen waren. Jetzt aber zeigte ihr kritisch besorgter Blick ihr Anklänge an Joans Sterblichkeit. Rogers aggressives Auftreten hatte mehr als nur Erinnerungen an Kämpfe und Schmerzen im Land zurückgebracht. Es hatte Linden auch dazu veranlasst, an ihre eigenen Eltern zu denken: an ihren Vater, der vor ihren Augen Selbstmord verübt hatte, und an ihre Mutter, deren Flehen um Erlösung sie dazu bewogen hatte, ihr Leben und Leiden zu beenden. Ähnlich wie Joan, wenn auch auf eigene Weise, hatte Linden zu viele Tode gesehen, einen fast zu hohen Preis für das Weiterleben gezahlt. Hätte Linden erklären sollen, weshalb sie im Berenford Memorial Psychiatric Hospital arbeitete, statt als Internistin zu praktizieren, hätte Linden geantwortet, sie tue es, weil sie ihre Patienten verstehe. Ihre beschädigten Psychen erschienen ihr beredt.
Im Augenblick hatte sie jedoch andere Sorgen. Während sie beobachtete, wie Wasser von ihren Wangen, ihrem Kinn tropfte, war sie sich des Dilemmas bewusst, dass sie Roger Covenant vielleicht falsch beurteilte. Die Zeit, die sie mit seinem Vater verbracht hatte, lieferte ihr zumindest einen Grund, an sich selbst zu zweifeln: Sie hatte keinen Vorboten gesehen.
Vor ihrer ersten Begegnung mit Thomas Covenant hatte sie plötzlich um das Leben eines Greises mit ockerfarbenem Gewand, dünnem Haar und fauligem Mundgeruch kämpfen müssen. Als er endlich auf ihre verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen reagiert hatte, hatte er wie ein Prophet verkündet: Du wirst nicht scheitern, wie arg er dich auch bedrängen mag. Es gibt auch Liebe in der Welt. Dann war er im Dunst des Sonnenuntergangs am Rand der Haven-Farm verschwunden.
Hab keine Furcht, hatte er gesagt. Sei getreu.
Keine sechsunddreißig Stunden später war sie in das Land gerufen worden. An Covenants Seite hatte sie Furcht und Bedrängnis durchlebt, die jeder Beschreibung spotteten. Dennoch war sie letztlich nicht gescheitert.
Zehn Jahre zuvor war auch Thomas Covenant diesem Propheten begegnet. Als er in dem verzweifelten und aussichtslosen Bemühen, seine gewöhnliche menschliche Identität zu festigen, in die Stadt gegangen war, hatte ihn ein Greis in ockergelber Robe und mit flammendem Blick angesprochen und gefragt: Warum scheidest du nicht aus dieser Welt? Als Covenant dem offensichtlich bedürftigen Alten seinen Ring hatte schenken wollen, war seine Gabe zurückgewiesen worden.
Bleib getreu, hatte der Greis ihm gesagt. Du brauchst nicht zu scheitern. Kurz danach war Covenant zum ersten Mal in das Land gerufen worden. Sein selbstloser Kampf gegen Lord Foul hatte ihn letztlich das Leben gekostet. Trotzdem war auch er nicht gescheitert.
Die naheliegende Frage lautete also: Wo war der Alte diesmal?
Konnten Rogers Absichten dem Land irgendwie gefährlich werden, musste der Greis irgendwo in der Nähe sein. Wenn er aber nicht erschien, um Linden zu warnen, konnte Roger dann so gefährlich sein, wie sie fürchtete?
Schließlich fasste Linden einen bewussten Entschluss. Sie würde glauben. Dass Roger versuchte, seine Mutter zu entführen, war sehr gut möglich. Aber solange der alte Mann nicht erschien, war das Land in Sicherheit – und weder Jeremiah noch sie waren ernstlich in Gefahr.
Sie zog einige Papierhandtücher aus dem Spender neben dem Waschbecken und trocknete sich Gesicht und Hände ab. Dann ging sie in ihr Büro zurück, um Megan anzurufen. Anschließend wies sie das Pflegepersonal an, dem Sicherheitsdienst und ihr selbst zu melden, falls Roger Covenant sich noch einmal blicken ließ. Weitere Vorsichtsmaßnahmen fielen ihr nicht ein. Linden seufzte. Sollte ihr der Prophet in dem ockergelben Gewand erscheinen, würde sie zwischen Jeremiah und dem Land wählen
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