Die Runen der Erde - Covenant 07
gewaltiger zu werden. Linden konnte es gut genug sehen, um zu wissen, dass es weder giftig noch verunreinigt war. Vielmehr war es ein Ausdruck von Erdkraft – viel reiner als jeder andere, den sie bisher erlebt hatte. Seine bloße Energie überstieg alle ihre Kräfte. Sie konnte weder seine Eigenschaften definieren noch seine Wirkung abschätzen. Es war zu extrem für gewöhnliche Menschen. Dennoch hatte Elena als junges Mädchen von diesem Wasser gekostet, ohne durch die Lehren und Ressourcen einer Lordschaft geschützt zu sein.
Linden standen Tränen in den Augen, als Stave und sie das mit Felsbrocken übersäte Seeufer erreichten.
Gemeinschaft. Vereinigung. Die Ranyhyn wollten sie an ihren Gedanken teilhaben lassen. Ihr Ungestüm ...
»Stave.« Sie hatte Mühe, verständliche Worte zu bilden. »Vielleicht sollte ich als Erste trinken. Nur für den Fall, dass ...« Sie verstummte, weil sie ihre Befürchtungen nicht in Worte zu fassen vermochte. Energie schien knisternd über die Seefläche zu laufen: beginnende Blitze, einsetzende Hysterie. In diesen nichts widerspiegelnden Tiefen existierten keine Sterne; stattdessen erstreckte pechschwarze Finsternis sich bis hinunter ins Mark der Erde.
»Du brauchst nichts zu befürchten«, antwortete der Meister. »Die Ranyhyn wollen dich nur erleuchten. Sie wollen dir nicht den Verstand rauben.«
Aber sie würden ihr vielleicht das Herz brechen.
Stave bückte sich, ohne zu zögern, und senkte sein Gesicht der Wasseroberfläche entgegen, und sein Beispiel riss Linden mit. Sie konnte es nicht ertragen, an diesem Ort, wo so viel auf dem Spiel stand, zurückgelassen zu werden.
Das eisige Wasser, das ihre Lippen und Zunge berührte, brannte wie Feuer, brannte dann in ihrem Inneren wie flüssiges Eis.
Dann schoss sie hoch und fing an, mit den Ranyhyn mitzulaufen, zu rennen, wie wild zu rennen, wie in Ekstase oder Verzweiflung durch das Tal zu stürmen, als hätte sie den Verstand verloren.
4
Des Regens ungeachtet
Linden Avery und Stave von den Haruchai kehrten in strömendem Regen zur Grenze des Wanderns zurück. Tief über den Hals ihrer Ranyhyn gebeugt, ritten sie wie von Furien gehetzt ins Lager der Ramen ein, während hinter ihnen stürmische Winde um die Gipfel tobten und eisiger Regen – fast schon Schneeregen, der durch Fallwinde verwirbelt wurde – aus allen Richtungen zugleich einzufallen schien. Gelegentlicher Donner schien nach ihnen zu schnappen; in unregelmäßigen Abständen verliehen Blitzstrahlen den aufgetürmten Gewitterwolken die Färbung von Prellungen und Wahnsinn: einen geschwollenen, bleigrauen Farbton, der mit Silbrigkeit wie von freigesetzter wilder Magie durchwirkt war.
Sie waren zwei Tage und eine Nacht fort gewesen.
Durch Wache haltende Seilträger oder irgendeine instinktive Verbindung zu den großen Pferden alarmiert, strömten die Ramen und Liand aus ihren Wohnstätten, um die Ranyhyn und ihre Reiter zu begrüßen.
Stave stieg ohne Hilfe ab, aber er schwankte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Kälte und grausame Unterkühlung, zu der noch die Nachwirkungen seiner Verletzungen kamen, hatten selbst seine gewaltige Körperkraft aufgezehrt. Vielleicht hätte er gesprochen, wenn Worte ausgereicht hätten, um seiner Gefährtin zu helfen – und wenn er sich in dem prasselnden Regen hätte verständlich machen können.
Lindens Finger mussten aufgebogen werden, so sehr hatten sie sich in Hyns Mähne verkrampft. Man hob sie vom Pferd; sie war so erstarrt, dass sie von Liand und einigen Ramen gestützt zwischen ihnen hing: vor Erschöpfung steif und bis ins Mark ausgefroren; so ausgekühlt und unter Entbehrungen leidend und verloren, dass sie nicht einmal mehr zittern konnte. Sie blieb in verkrümmter Haltung, atmete wie eine Sterbende mit flachen, keuchenden Atemzügen und weinte unaufhörlich wie der Regen.
Dass sie überlebt hatte, verdankte sie nur Hyns dampfender Wärme. Vielleicht hatte sie irgendwann tagsüber weißes Feuer angewendet, um sich am Leben zu erhalten; Stave würde es wissen, falls sie es vergessen hatte. Aber schon vor vielen Stunden hatten Sturm und Gewitter ihre Fähigkeit, Macht auszuüben, zerpflückt und ihr aus den Händen gerissen. Hätte sie nicht an Hyns Hals gelegen und sich dort mit verzweifelter Kraft festgeklammert, hätte ihr Fleisch sie im Stich gelassen. In dem peitschenden Regen, dem beißenden Wind lag eine Bösartigkeit, die sie ohne ihr Reittier nicht so lange hätte ertragen
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