Die Runen der Erde - Covenant 07
durchnässt und gegeißelt und vor Kälte erstarren und schließlich gefühllos werden lassen. Und Sterblichkeit war keine Ausrede. Sie konnte Linden nicht vor den Konsequenzen dessen, was sie gesehen hatte – oder dessen, was sie tun wollte –, schützen.
Diese Macht besaß nur der Tod.
Den Tod aber konnte sie nicht wählen; nicht solange der Verächter noch ihren Sohn in seiner Gewalt hatte. Deshalb erinnerte sie sich. Sie hob eine scharfkantige Scherbe nach der anderen vom Boden auf und schnitt damit ...
Hyn und Hynyn, tapfer wie Märtyrer. Die bewusstseinserweiternden Wasser des Bergsees: grausam und unsagbar kalt. Die wilde Jagd. Jahrtausende voller Schande.
Und Jeremiah.
Oh, mein Sohn.
»Ring-Than«, sagte eine Stimme, die entfernt vertraut klang. »Linden Avery.«
War das Mähnenhüterin Hami? Hami, die sie vor Tagen hinter riesenhohen Bergen aus Verzweiflung zurückgelassen hatte? Linden wusste es nicht.
»Du musst sprechen. Du bist krank. Wir wissen nicht, wie wir dir helfen sollen.«
War sie krank? O ja; sie war sterbenskrank. Aber dies war kein körperliches Leiden. Obwohl alles in ihr zwanghaft zitterte, hatte sie zu lange Zeit von Erdkraft erfüllt verbracht, um an einem rein körperlichen Fieberanfall zu leiden. Sie war krank von Visionen: den Erinnerungen und Vorausahnungen der Ranyhyn.
Auf gewisse Weise sprengten die großen Pferde das Gesetz der Zeit. Sie wussten, wann sie gebraucht werden würden. Sie wussten im Voraus, wie weit sie würden gehen müssen ...
Hände ergriffen Lindens Schultern, versuchten sie ruhigzustellen. Eine Männerstimme – Liands? – rief mehrmals ihren Namen, holte sie zu sich selbst zurück. Sie fürchtete, er werde damit aufhören, wenn sie nicht antworten konnte. Zwischen Zitteranfällen versuchte sie zu sagen: »Der Bergsee.«
Linden glaubte, laut gesprochen zu haben. Jedenfalls spürte ihre überanstrengte Kehle die Anstrengung und den Schmerz einer Lautbildung. Aber sie konnte sich nicht hören. Das laute Trommeln des Regens auf dem Dach der Wohnstätte übertönte ihre Stimme.
»Das Rösserritual.«
Um sie herum wiederholten Seilträger das Wort ›Rösserritual‹ so ehrfürchtig, als sei ihr damit ein besonderes Privileg zuteil geworden. Eine Frauenstimme, Hamis, sagte leise: »Wie wir es erwartet haben. Die Ranyhyn besitzen Einsichten, deren sie bedarf.«
Die Ramen verstanden nichts. Wie denn auch? Sie existierten kaum, wurden durch Lindens Zittern vage. Sie konnte sie nicht eindeutig fixieren. Nur Stave, den sie durch Flammen hindurch sah, erschien ihr ganz real: unwiderlegbar wie aus Stein gemeißelt.
»Nur Hyn und Hynyn«, krächzte sie heiser. Keine weiteren Ranyhyn. »Die anderen konnten es nicht ertragen. Sie schämen sich zu sehr.«
Das schockierte die Ramen. Sie verschwammen wie Tränen. Stimmen protestierten: »Nein« und nochmals »Nein.« Aus dem Hintergrund fauchte jemand: »Das stimmt nicht. Sie lügt!«
Stave blinzelte mit leicht glasigen Augen. »Es ist die Wahrheit«, verkündete er streng und nickte durch das Feuer zu Linden hinüber. »Seht sie euch an! Entdeckt ihr Unehrlichkeit in ihr?«
»Beschämt euch nicht selbst«, forderte Hami die empörten Ramen auf. »Seid ihr blind geworden? Sie hat keinen Funken Unehrlichkeit im Leib.«
Das Fieber hatte alle Lügen weggebrannt, an die Linden vielleicht gern geglaubt hätte.
»Wir sind Ramen«, teilte die Mähnenhüterin den Seilträgern streng mit. »Wir wollen die Wahrheit hören.«
Sie gehorchten ihr, aber Linden tat es nicht. Aus ihrem Herzen schienen Erinnerungen zu quellen, für die sie keine Worte und keinen Mut hatte. Indem sie schnell genug gerannt war, um die Zeit zu besiegen, hatte sie die Visionen der Ranyhyn geteilt – nicht Bilder von Kelenbhrabanal und Fangzahn, sondern von der kleinen Elena, dem durch eine Vergewaltigung gezeugten Kind Lenas.
Eine weitere Warnung ...
Damals war Elena ein junges Mädchen gewesen, reizend, wie es nur ein Kind sein konnte, und trotz der Labilität ihrer Mutter unschuldig arglos. Durch die Vergewaltigung und ihre Sehnsucht hatte Lena den Verstand verloren, war nicht länger imstande, ein Kind aufzuziehen. Und die Eltern Lenas, Trell und Atiaran, waren seit dem an ihrer Tochter verübten Verbrechen gebrochene Menschen. So war Elena von der eigenen Familie praktisch im Stich gelassen und der Fürsorge eines jungen, nicht weiter beachteten Mannes, der Lena verehrte, überlassen worden. Um des Landes willen hatte er Elena im Prinzip
Weitere Kostenlose Bücher