Die Runen der Erde - Covenant 07
zuvor nicht von Kevins Schmutz einschüchtern lassen, wäre sie nicht in Panik geraten. Mit dem warmen Holz in den Händen hatte sie nur den Wunsch, den Ramen ihre Sinneswahrnehmungen zurückzugeben, und dieser Wunsch wurde ihr erfüllt.
Die Freude, die ihre Gesichter aufleuchten ließ, als sie wieder sehen konnten, war wundervoll zu beobachten. Und bei Bhapa war sie besonders groß. Bis zu dieser Sekunde hatte er offenbar nicht recht erkannt, dass er mit beiden Augen wieder gewöhnlich sehen konnte. Jahrelang war sein Sehvermögen beeinträchtigt gewesen; nun konnte er in jedem Sinn des Wortes wie früher sehen.
Die Ramen warfen sich sofort gemeinsam vor Linden zu Boden, als sei sie so Ehrfurcht gebietend wie die Ranyhyn.
Sie ließ verlegen den Stab sinken, murmelte: »Oh, steht auf. Bitte! Ich will nicht so behandelt werden. Die Besserung ist nur vorläufig. Kevins Schmutz hängt weiter über dem Land. Aber ich kann eure Wahrnehmungsgabe jederzeit wiederherstellen. Und irgendwann finden wir ein Mittel, um die Ursache zu beseitigen.«
Die Ramen erhoben sich gehorsam. Pahni und Liand waren nun durch einen fast greifbaren Strom aus Wiedersehensfreude verbunden, und Bhapa betrachtete Linden mit Dankbarkeit in seinem klaren Blick. Mahrtiir machte jedoch sofort kehrt, um die unter ihnen wartenden Meister finster herausfordernd anzustarren.
»Schlaflose«, rief er mit einer Stimme, in der Verachtung mitschwang, »eure Anwesenheit hier ist zwecklos. Ihr werdet bestimmt verlangen, dass die Ring-Than ihr Handeln und ihre Absichten verteidigt. Stave hat euch eine Abrechnung versprochen, nicht wahr? Und ihr werdet versuchen, euch dafür zu rechtfertigen, dass ihr den armen Anele, der keiner Fliege etwas zuleide tut, misshandelt habt. Aber eure Worte sind leer, eure Entscheidungen bedeutungslos. Die Ranyhyn haben die Ring-Than anerkannt. Nicht nur das, sondern sie haben ihr gehuldigt, indem sie die Köpfe vor ihr gesenkt haben, wie sie es noch bei keinem Sterblichen getan haben. Und in ihrem Namen haben sie alle ihre Gefährten anerkannt – auch Anele. Tatsächlich sind sie auf ihren eigenen Wunsch von Ramen geritten worden, was noch keiner von uns jemals getan hatte. Schlaflose, Bluthüter, die ihr so viele Ranyhyn zu Tode geritten habt, hier gibt es nichts mehr zu sagen. Nichts mehr! All eure Zweifel, all eure Arroganz ist widerlegt. Seid ihr nicht bereit, der Ring-Than zu dienen, müsst ihr auf eure Meisterschaft verzichten, denn damit habt ihr eure Treulosigkeit dem Land gegenüber erklärt.«
Von der untersten Ebene der Klause aus betrachteten die Meister ihn schweigend. Linden konnte ihre Reaktionen nicht deuten. Trotzdem vermittelte ihr ausdrucksloser Stoizismus den Eindruck, als hielten sie Mahrtiirs Empörung für keiner Antwort würdig.
Einmal mehr brachte die scheinbare Teilnahmslosigkeit der Haruchai Linden gegen sie auf. Kein Wunder, dass die Haruchai sich durch Gedankenlesen verständigen. Für jede andere Kommunikationsform waren sie zu abgeschottet, zu tief in sich selbst eingeschlossen.
Mahrtiir schnaubte verächtlich, als er sich nach Linden umdrehte. »Ring-Than, willst du dich diesem falschen Tribunal unterwerfen?«
»Unterwerfen?« Ihr Tonfall glich seinem. »Nein. Aber ich will hören, was sie zu sagen haben, und werde darauf antworten. Ich brauche sie, Mähnenhüter. Das Land braucht sie. Das muss ich akzeptieren.«
Er erwiderte ihren Blick, als suche er irgendeine schwache Stelle in ihrer Entschlossenheit. Dann nickte er schroff. »Wie du willst. Die Ramen werden dir beistehen, was auch geschehen mag. Aber höre auf meine Warnung. Diese Meister ...« Er spuckte das Wort förmlich aus. »... werden nicht ehrlich mit dir sein.«
Linden griff auf ihre professionelle Distanziertheit zurück, als sie antwortete: »Das riskiere ich.«
Die Haruchai würden sich niemals dazu herablassen zu lügen; dazu konnte sie nichts und niemand zwingen. Außer sie hatten sich zuvor selbst belogen.
Als Linden in die Klause hinabzusteigen begann, gingen Liand und Mahrtiir neben ihr, während die Seilträger ihr den Rücken freihielten. Mit Galt, der die Nachhut bildete, schritten sie und ihre Begleiter mit der feierlichen Langsamkeit eines Leichenzugs über den gequälten Stein hinab. Auf dem Boden der Grube machte Linden halt, um zu sehen, wie die Meister auf ihre Ankunft reagieren würden.
Stave beobachtete sie einen Moment lang mit seinem verbliebenen Auge, als wolle er sie gegen seine Beschämung abwiegen.
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