Die Runen der Erde - Covenant 07
Fels.
Sie ruhte sich sitzend aus. Ohne gleich zu merken, was sie tat, betrachtete sie teilnahmslos ihre Hände, als frage sie sich, was aus ihnen geworden sei. Sie erschienen ihr seltsam, waren blass von Gesteinsstaub. Linden starrte sie benommen an, versuchte zu erkennen, wodurch sie sich verändert hatten.
Wie waren sie so schwach geworden?
Sie waren mit Staub verkrustet, aber das Blut, das ihre rechte Handfläche entstellt hatte, war verschwunden. Wie ihre anderen Verletzungen war die Schnittwunde, die sie sich selbst beigebracht hatte, abgeheilt. Selbst das Blut war weggebrannt worden. Trotzdem beunruhigte der Anblick ihrer Hände sie. Irgendetwas war mit ihnen nicht in Ordnung.
Sie war zu müde, um nachzudenken.
Sie hatte Anele verloren.
Aber er musste doch irgendwo in der Nähe sein! »Ich habe mich selbst gerettet«, murmelte sie, »da habe ich es doch bestimmt geschafft, auch ihm das Leben zu retten?« Vage richtete sie ihren Blick in die azurnen Weiten des Himmels. Nach Norden hin wurde der Horizont nur durch Hügelkämme definiert, deren Konturen durch Buschwerk und Bäume verschwammen; hinter ihr jedoch ragten Bergketten in sanftem Sonnenglanz in den Himmel auf. Auf den entfernteren Gipfeln lag Schnee. Als ihr Blick wieder auf ihre zerschnittene Handfläche fiel, merkte sie, dass sie nicht erkennen konnte, ob die Wunde glatt abgeheilt war. Sie konnte nicht beurteilen, ob die Nerven, die Sehnen heil waren. Falls in den Adern Blut floss, lag das außerhalb ihres Wahrnehmungsvermögens. Und erst jetzt kam es Linden gänzlich zu Bewusstsein: Vom Kevinsblick aus hatte sie den Erdboden nicht erkennen können. Das gesamte Gebiet hatte unter einem Smog aus Unrechtsein gelegen. Jetzt hatte sie nach allen Seiten hin freie Sicht. Aber die auf sie herabscheinende Sonne hatte ihren seligen Anklang eingebüßt. Sie hätte jetzt jede Sonne jeder Welt sein können.
Plötzlich verängstigt ließ Linden die Hände auf die Felsen unter sich sinken, tastete ihre rauen Kanten und Flächen ab ... und spürte nur kühles Gestein, oberflächlich und stumm; unbelebt.
Das gelbe Leichentuch, das über dem Land gelegen hatte, war verschwunden ...
... und hatte ihren Sinn für das Gesunde mit sich genommen. Sie hatte ihre Empfindlichkeit für die reiche Vitalität und das Wesentliche des Landes eingebüßt. Als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte sie noch einen letzten Rest ihrer Wahrnehmung besessen; nun aber war auch dieser verschwunden.
Von neuen Ängsten angetrieben zwang sie sich zum Aufstehen; dann stand sie unbeholfen auf zertrümmerten Felsen, um Ausschau nach Anele halten zu können. Herabgestürzte Felsen bedeckten den Abhang, wo sie hingefallen waren. Über ihr ruhten riesige Granitblöcke gefährlich labil auf anderen Steinen in allen Größen und Formen. Linden hatte nicht gespürt, dass Anele sich fortgeschlichen hatte. Vielleicht hatte die wilde Magie ihm die Seele aus dem Leib gebrannt, oder vielleicht lag er zerschmettert unter einem der schartigen Menhire, von denen sie umgeben war.
Er war alles, was sie hatte.
Aber dann erspähte sie auf dem Hang über sich, zehn bis fünfzehn Schritte entfernt, eine Hand, die den Fels umklammerte, als suche sie tastend Hilfe. Ohne ihren Sinn für das Gesunde konnte Linden nur die Hand sehen, konnte nichts erkennen, was den Körper betraf, der zu ihr gehörte. Aber die Hand bewegte sich; die Finger tasteten schwach das Gestein ab. In atemloser Hast stürzte Linden darauf zu. Sie war schwach, und die Eile machte sie unvorsichtig. In dem tückischen Geröll rutschte sie mehrmals aus, fiel hin, rappelte sich wieder auf und hastete keuchend weiter. Ohne ihre Stiefel und Jeans hätte sie sich die Beine blutig geschürft, aber sie achtete ohnedies nicht darauf. Als sie den Felsen erreichte, den die Hand umklammerte, fand sie Anele dahinter in den Trümmern. Er lag auf dem Rücken; die blinden Augen starrten weißlich in den Himmel. Seine Hände krallten vage nach dem Granit, als versuche er, sich aus einem Grab herauszuarbeiten. Seine Atemzüge quälten sich schmerzlich durch seinen schmutzigen Bart.
»Anele«, keuchte Linden mit schwacher Stimme. Sie beugte sich über ihn und versuchte, mit den Sinnen in ihn einzudringen; bemühte sich, unter die Oberfläche seiner runzligen, ungewaschenen Haut zu blicken. Aber von der Geistesgestörtheit und der Erdkraft, die ihn zuvor definiert hatten, nahm sie keine Spur mehr wahr. Er blieb ihr jetzt verschlossen.
O Gott! Das
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