Die Runen der Erde - Covenant 07
er weiterhin geistesgestört war. »Ich habe gesagt, dass ich dich beschützen werde.« Sie glaubte keine Sekunde lang, dass die Zäsuren des Verächters es auf ihn abgesehen hatten. »Du weißt, wie mächtig ich bin.« Vorsichtig berührte sie ihn erneut, streichelte ihm die Schulter und hoffte, wenn schon nicht seinen beeinträchtigten Verstand, dann doch wenigstens seine Nerven davon überzeugen zu können, dass er bei ihr sicher war. »Aber Lord Foul hat meinen Sohn entführt. Meinen Sohn, Anele.« Auch dieser alte Mann war einst jemandes Sohn gewesen, war geliebt worden, wie sie Jeremiah liebte. Wenn er sich daran erinnern konnte ... »Ich muss ihn zurückholen.« Und um Jeremiahs willen fügte sie hinzu: »Das bedeutet, dass ich den Verächter finden muss.«
Anele gab keine Antwort. Sie wusste nicht genau, ob er sie verstanden hatte. Trotzdem war seine Schulter jetzt etwas weniger angespannt.
»Ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll.« Sie holte tief Luft und hielt für einen Augenblick den Atem an, um zur Ruhe zu kommen. »Ich habe einen Ring aus Weißgold. Ich besitze Macht. Aber ich kann meinen Sohn nicht befreien, wenn ich nicht weiß, wo Lord Foul ist. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wo ich ihn suchen soll. Anele, ich brauche Antworten. Ich brauche deine Antworten auf meine Fragen.«
Der Alte sprach noch immer nicht, aber er schien über ihre Worte nachzudenken. Sie verstummte, verließ sich darauf, dass ihre Hand auf seiner Schulter ihm das übermitteln würde, was sie nicht ausdrücken konnte, und schließlich veränderte Anele seine Haltung, sodass er sich mit dem Rücken an den Felsblock lehnen konnte. Seine mageren Beine lagen erbärmlich dünn vor ihm ausgestreckt; seine Füße waren verkrümmt und mit Narben bedeckt, von dicker Hornhaut und alten Wunden entstellt. Er musste viele, viele Jahre ohne Schuhe oder Sandalen ausgekommen sein. Dann sagte er: »Du hast einen Sohn.« Das war ein unglücklicher Seufzer, in dem jahrzehntelange Trauer und Leid anklangen. »Ihm ist sein Geburtsrecht entrissen worden. Meines habe ich verloren. Ich bin es nicht wert, beschützt zu werden. Ich lebe nur noch, weil ich die letzte Hoffnung des Landes bin. Stell deine Fragen. Ich will versuchen, sie zu beantworten.«
Oh, Anele.
Seine Worte rührten an Lindens Herz.
Die letzte Hoffnung? Wie war das möglich? Was war ihm zugestoßen? Wodurch war er so schlimm beschädigt worden? Weiter bemüht, Vorsicht walten zu lassen, fragte sie in nachdenklichem Tonfall: »Kevins Schmutz? Warum wird er so genannt?«
Anele legte den Kopf auf die andere Seite und sah sich um, als suche er eine Erklärung. »Diese Steine wissen es nicht«, stellte er barsch fest. »Kevin Landschmeißer, den Letzten der Alt-Lords, kennen sie. Das Ritual der Schändung ist in sie eingeschrieben. Aber Kevins Schmutz ist ein von Menschen beigelegter Name. Er ist zu neu, um hier wahrgenommen zu werden.«
Das verstand Linden nicht. Sie war zu müde, und die zunehmenden Schmerzen ihrer zahlreichen Prellungen verwirrten sie. Auch sie hatte den Hoch-Lord gekannt. Kevins Schatten hatte sich ihr in Andelain genähert und versucht, sie dazu zu bewegen, sich gegen Thomas Covenant zu wenden. Der tote Hoch-Lord hatte gefürchtet, Covenants Absichten würden das Land ins Unglück stürzen. Es war ihr schwergefallen, seinem gequälten Geist eine Absage zu erteilen. Er kannte sich mit Verzweiflung aus, war damit so vertraut gewesen wie Linden. Aber letztlich hatte sie ihre Zweifel doch beiseite geschoben, um Covenant gegen den Verächter beizustehen. Kevins Schmutz. Es war kein gutes Omen, dass Lord Fouls alles bedeckendes Leichentuch nach dem Mann benannt war, der mitgeholfen hatte, das Ritual der Schändung zu vollziehen.
Während Linden sich bemühte, Aneles Antwort zu verstehen, fuhr der Alte fort, mit blicklosen Augen die zertrümmerten Felsen zu studieren. Nach einer Weile fragte er: »Bist du zufrieden? Ich darf nicht hier bleiben. Sonst entdecken sie mich.«
Sie versuchte, die Befragung fortzusetzen. »Wie lange ...?« Aber ihre Stimme versagte, weil Staub und Vorahnungen ihr die Kehle abschnürten. Sie musste einige Male schlucken, bevor sie fragen konnte: »Wie lange ist der Schmutz schon dort oben?«
Anele zuckte mit den Schultern. »Fünfzig Dutzend Jahre? Hundert Dutzend? Die Gebeine der Erde achten nicht auf solche Einzelheiten.«
»Und diese Zäsuren? «, fasste sie nach. »Gibt es die schon ebenso lange?«
Er schüttelte den Kopf.
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