Die Runenmeisterin
und sah ihre Töchter am Tisch sitzen und Linnen flicken. Avenaar arbeitete sorgsam, konzentriert, das Haar auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Rosalie flickte ungeduldig, mit zusammengekniffenen Augen und einem unwilligen Zug um den Mund, und das Haar fiel ihr offen über die Schulter. Die beiden waren so unterschiedlich wie Wasser und Feuer – die eine still und scheu, die andere mutig und mit einem eisernen Willen. Und doch verstanden sie sich auf ihre Weise, zwei Schwestern, die sich liebten, und Avenaars Entschluß, Mutter und Schwester zu verlassen, hatte Rosalie tief getroffen.
Wäre Avenaar gestorben, es hätte für die Mutter nicht schlimmer sein können. Aber für sie, die letzte Runenmeisterin der Sachsen, die über Land ging und den Leuten das Orakel las, war eine Tochter im Kloster eine verirrte, verlorene Seele.
Avenaars Entschluß stand fest. Mit dem Gesicht einer Rose und der Gestalt der Göttin Freya selbst würde sie in wenigen Tagen nach Raupach gehen und dort darum bitten, daß man sie ins Kloster zu Unseren Lieben Frauen begleite, damit kein Verdacht auf ihre dunkle Vergangenheit fiele.
In der Hütte brannte nur das Feuer, und Avenaar legte das Linnen auf den Tisch zurück. »Es ist zu dunkel«, meinte sie, »ich flicke morgen weiter.«
»Wozu?« fragte Rosalie spitz, »du brauchst es doch nicht mehr. Da, wo du hingehst, braucht man kein Linnen. Man braucht auch keine Sprache mehr, denn ich habe gehört, sie reden nicht miteinander, und essen tun sie nur Sauerampfersuppe und hartes Brot.«
»Hör auf«, sagte Avenaar müde, »du wirst es doch nie verstehen.«
»Nein, ich verstehe es nicht. Die Tochter einer Runenmeisterin in einem christlichen Kloster! Eine Schande ist das.«
Sie stritten noch eine Weile hin und her, und Sigrun beobachtete sie still. Immer wieder fragte sie sich, was sie falsch gemacht haben könnte, und doch wußte sie, daß diese Frage sinnlos war. Die Zeit war falsch, das war die einzige Antwort, die es gab. Und die Zeit konnte man nicht mehr zurückdrehen. Die Zeit war Werdandi, jene Norne, die die Gegenwart spann. Doch wer weiß, vielleicht gab es die Nornen schon gar nicht mehr in einer Welt wie dieser. Vielleicht war ihr Brunnen zugeschüttet und die Esche in ihrem Garten verdorrt.
Es klopfte an die Tür. Die Schwestern hörten auf zu reden, und Sigrun sah aus dem Fenster. Draußen, im hellen Licht des vollen Mondes stand der Bauer vom Schütterhof in einem dicken, wollnen Mantel. Er kam von weit her und hatte den Schutz der Nacht genutzt, um unerkannt hierherzukommen.
Sigrun öffnete die Tür. Kalte Luft strömte in die Hütte und der fremde Geruch eines Schaffellmantels.
»Ich kam schneller voran, als ich dachte«, sagte er und schüttelte sich den Mantel von den Schultern, den Sigrun sorgfältig an einen Haken an die Holzwand hängte.
Avenaar wandte sich ab. Das hier war nichts mehr für sie. Ein dummer Bauer, der sich von Sigrun die Runen legen ließ, weil seine Frau im Kindbett gestorben war und er nun daran dachte, sich wieder zu verheiraten. Warum tat er es nicht einfach, sondern rannte hierher durch die Nacht, um sich die Antwort aus ein paar zerkratzten Steinen und Stäben lesen zu lassen?
»Ich muß gleich zurück«, sagte er und ließ sich auf einem der Schemel nieder. »Je eher ich zu Hause bin, desto weniger fragt man sich, wo ich gewesen bin.«
»Wer ist die Frau, die du zu dir nehmen willst?« wollte Sigrun wissen, die an der Feuerstelle stand und Wasser in einem Topf erhitzte.
»Es ist die Witwe meines Nachbarn. Er starb am Schweißfieber. Aber die Leute sagen, sie brächte Unglück …«
»Hör nicht auf das, was die Leute sagen«, brummte Sigrun und warf ein paar getrocknete Zweige der weißen Minze und eine Meerrettichwurzel in das kochende Wasser. »Wir werden sehen, was die Steine sagen. Dann kannst du in Ruhe entscheiden.«
Der Bauer nickte. Seine kräftigen Hände lagen auf dem Tisch wie zu einem Gebet gefaltet. Er wirkte nervös, er wußte, er hätte hier nicht sein dürfen. Der Christengott sah es nicht gerne, wenn er zu einer wie der hier ging. Aber die Priester waren weit weg und ahnten nichts von seinen Sünden. Schon sein Großvater war hierhergekommen, und Sigrun war die beste Runenmeisterin, die es je gegeben hatte.
»Es ist schon recht«, sagte sie vom Feuer her, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Danach wird es dir besser gehen.«
Avenaar nahm ihr Linnen und stand auf. Draußen war es zu kalt, also
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