Die Runenmeisterin
Franken ebensowenig wie sein Herzog und wie alle Sachsen. Einst waren die Sachsen das mächtigste Volk im Deutschen Reich gewesen, und sie waren immer noch mächtig. Kein Welfe beugte sich vor einem Franken. Vor denen, die Sachsen am liebsten unter sich aufgeteilt hätten wie einen Kuchen. Custodis stand mit eiserner Loyalität zu seinem Braunschweiger Herzog, dem Löwen, und die Gelegenheit, den Franken ans Leder zu gehen, nahm er nur zu gerne wahr.
Dies hier war so eine Gelegenheit. Konnte er einem von Raupachs Leuten den Mord anhängen oder den Prozeß machen, würde sich der Herzog dafür erkenntlich zeigen. Leider sah die Sache allerdings recht schwierig aus, ein wenig trübe sogar, wie Custodis seufzend resümierte. Es gab bisher keinen Anhaltspunkt, nichts, wo er seine Suche hätte beginnen können. Er hatte nur einen Mann im weißen Mantel, der nicht mehr aussagen konnte, und einen toten sächsischen Offizier.
Cainnech Tuam hatte in Köln zwei irische Landsleute getroffen und die Nacht mit ihnen in der Schenke ›Zum Hammer‹ durchzecht. Es tat ihm gut, wieder einmal gälisch zu sprechen, von der Heimat zu träumen und sich sinnlos zu betrinken.
Am nächsten Morgen hatte der Wirt ihn unsanft vor die Tür gesetzt, und er war müde, aber zufrieden durch die Stadt geschlendert. Er war lange nicht mehr hiergewesen und kannte sich kaum noch aus. Er mochte diese Stadt. Sie war wie eine lasterhafte und verruchte Geliebte. Er ging vorbei an den Garküchen, aus denen verführerische Düfte drangen, bummelte über den Markt und sah in die Auslagen der Händler, ging vorbei an den Steinhäusern der Reichen und den Hütten der Armen.
Am Ende einer Straße sah er St. Marien vor sich, eine der ersten Kirchen der Stadt. Er trat ein – kühl und dämmrig und menschenleer war es hier. Er kniete vor dem Chor, senkte den Kopf und wurde ruhig. Müdigkeit erfaßte ihn, aber er schlief nicht. In ihm wurde es immer leerer, bis kein Gedanke, keine Regung mehr vorhanden waren. Er hatte diese innere Form der Sammlung von seinem Großvater gelernt. Es war eine Art, Gott anzurufen, die der der Christen sehr ähnlich war.
Cai konzentrierte sich auf das Nichts. Er nahm nicht mehr wahr, was um ihn herum geschah, bis die Schritte eines Priesters durch das Kirchenschiff hallten. Da sah er auf, und sein Blick fiel auf das hölzerne Kreuz, das über dem Chor hing. Wieviel wußte er noch von den Lehren seines Novizentums? Manchmal ging er in den Wald, an eine Quelle oder zu den alten Steinen, wo es sie noch gab. Eine Kirche aber war ein künstliches Gebilde, von Menschen erschaffen, und ihre Mauern störten die magischen Kräfte, die den Quellen der Natur innewohnten und durch die man Verbindung zu den Göttern aufnehmen konnte. Dennoch war Gott auch hier zu finden. Der eine Gott hat viele Gesichter.
Cai hob den Kopf. Im Dämmerlicht ringsum blieb alles still. Hier würde ihm nichts und niemand antworten. Auch Gott nicht.
Als er zurück auf die Straße trat, bemerkte er eine Hure auf der anderen Seite. Sie lächelte ihn an. Alles an ihr war rot, selbst die Schuhe und das Haar. Sie steuerte auf ihn zu, selbstbewußt, gefällig. Aber er fühlte sich plötzlich müde, schmutzig und schuldig.
»Was ist?« fragte sie kokett, »kommst du mit mir? Ich habe eine Kammer in der Straße, sauber und frei von Ungeziefer.«
Er grinste. Er hätte jetzt in Bertholds Stadthaus gehen müssen, aber er verspürte wenig Lust dazu, sich dort mit den Dienstboten zu streiten, deren Schlamperei er ein Ende bereiten sollte.
Sein Schwert steckte im Gürtel, ebenso sein Geld. Wenn er einschlief, würde sie ihm wahrscheinlich die Börse abnehmen und ihm mit seiner eigenen Klinge die Kehle durchschneiden.
Er musterte sie. Er kannte sich mit Menschen aus. Sie würde sich mit seinem Geld begnügen. Sie war an den Tod gewöhnt, doch sie hatte Angst davor.
Sie führte ihn in ein kleines Haus am Ende der Straße. Die Treppe hinauf. Im Zimmer stand ein Bett, und die frischen Binsen dufteten nach Thymian. Cai blieb im Zimmer stehen.
»Ich bin müde«, sagte er.
»Du willst schlafen?«
»Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.« Er öffnete seinen Gürtel, warf ihn aufs Bett und legte einige Münzen auf die Fensterbank. Dann zog er sich die Stiefel aus und fiel in die weichen Kissen.
»So ein Gottvertrauen wie du möchte ich auch mal haben«, murmelte die Hure und nahm das Geld von der Fensterbank. Ein königlicher Lohn nur für ein lausiges Bett und einige
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