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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Groß
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könnte sie bei Eurem Herren unterkommen?« hörte er Sigruns leise Stimme. Er nickte. Sicher konnte sie bei seinem Herren unterkommen. Berthold würde für eine arme Waise sorgen. »Ich werde es versprechen. Seid Ihr jetzt beruhigt?«
    Sigrun nahm stumm seine Hand. Das Feuer in der Mitte war ausgegangen. Im verkohlten Holz verglühten rote Funken wie Sternschnuppen. Die schwelende Glut brach auseinander, und es zischte und sprühte. Dampf stieg auf, grünlich, phosphoreszierend, verteilte sich in der Luft.
    Der Ire kannte den Geruch der verbrennenden Pilze, der die Sinne öffnete oder auch die Pforte zum Tod. Er atmete tief ein, berauschte sich damit.
    Sigrun breitete ein weißes Tuch auf dem Waldboden aus und warf 24 Haselnußstäbchen mit eingeritzten Runen darauf. Dann zog sie fünf der Stäbe heraus und legte sie vor sich hin.
    Die Menschen hatten aufgehört zu sprechen und nahmen schweigend Anteil an der stillen Nachdenklichkeit, mit der sie über den Stäben saß. Der Geruch, der aus dem Feuer drang, wurde immer kräftiger und würziger. Der Wind drehte sich und wehte die feinen Rauchfahnen direkt auf den Platz, auf dem die Menschen saßen.
    Sigrun nickte einem der Männer zu, die auf dem Boden saßen. Er stand auf und verschwand irgendwo in der Dunkelheit des Waldes.
    »Komm«, sagte Sigrun zu dem Iren, »weißt du, was die Nornen sind? Sie sitzen am Urdbrunnen und lenken das Schicksal von Menschen und Göttern. Sie besitzen ein Spinnrad, mit dem sie die Fäden des Lebens weben. Weißt du, daß sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig spinnen können? Sie sehen alles und sie wissen alles. Ihnen gehört die Rune H AGALAZ . Früher, bevor die Christen in unser Land kamen, konnte man die Nornen sehen, heute sind sie verschwunden. Aber noch älter sind die Wanen, ein altes Göttergeschlecht. Ich habe beide gesehen, die Nornen und die Wanen, H AGALAZ und F EHU . Die Runen heute haben sich für H AGALAZ entschieden.«
    Der Ire schüttelte verwirrt den Kopf. Die Dämpfe benebelten seine Sinne. Er konnte nicht mehr klar denken, und vor seinen Augen hingen blasse Schleier.
    »Denkt nicht, junger Mann«, sagte Sigrun lächelnd, »denn die Nornen sind nicht für das Denken geschaffen. Sie waren eher als der Verstand. Kannst du sie sehen?«
    Er sah eine Frau. Sie trat aus der Dunkelheit zum Feuer. Tief verschleiert in einem weißen Kleid. Sigrun stand auf. Sie nahm sich den Mantel von den Schultern, den Mantel mit den angenähten Runen und dem weißen Katzenfell. Sie zog der Verschleierten das Kleid aus, unter dem der nackte Leib zum Vorschein kam. Dann zog sie ihr die Schuhe aus, drückte ihr den Stein mit der Rune H AGALAZ in die Hand und warf ihr den eigenen Mantel über.
    »Die Nornen mögen dich beschützen, mein Kind«, sagte sie und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Du bist jetzt die Runenmeisterin. Aber hüte dich, dein Wissen an die Falschen weiterzugeben, übe deine Kunst im stillen aus, dort, wo dich niemand sieht, wo dich niemand hört. Wenn jemand zu dir kommt, für den du die Zukunft schauen sollst, vergewissere dich, daß er mit lauteren Absichten kommt. Andernfalls überantworte ihn dem Tod, so wie es die Götter lehren.«
    Die Fremde stand da wie eine Statue, bewegungslos. Nicht einmal die Spitzen an ihrem Schleier zitterten. Dann sank sie plötzlich zur Erde und blieb in dem kalten Blattwerk liegen. Zwei Männer standen auf und trugen sie zum Feuer hin. Eine der Frauen tätowierte der Bewußtlosen die Rune Hagalaz zwischen die Brüste. Dann nahm sie einen Becher, füllte ihn im nahen Bach mit Wasser und flößte es der am Boden Liegenden ein. Sie erwachte, drehte den Kopf herum.
    »Komm«, sagte Sigrun zu dem Iren. Sie zog ihn auf die Beine und zum Feuer. Jemand nahm seinen Gürtel mit den Waffen ab. Ein anderer zog ihm den Mantel aus und das Wams, das er darunter trug. Er stierte auf dieses Zeichen zwischen den Brüsten der Frau. Es war ein mächtiger Zauber, den er spürte, aber es war kein guter. Das Denken fiel ihm immer schwerer, und dann sah er sich plötzlich von allen vier Seiten von weißen Katzenfelldecken umgeben, die man um ihn hielt, um die fremden Blicke abzuschirmen. Ihm schwindelte, die Welt schien sich im Kreis zu drehen, und statt einer Frau am Boden sah er drei. Der Schwindel ging vorüber, und ihm wurde kalt, eine Kälte, die durch seinen Leib schoß wie Eisen.
    »Komm«, flüsterte die Frau am Boden. Er blickte wieder auf dieses Zeichen hinab, kniete sich nieder und

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