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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Groß
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wollte den Schleier der Frau anheben. Doch sie schüttelte den Kopf und nahm seine Hand. Ihr Leib glühte wie im Fieber, und er wärmte sich an ihr, auf daß die eiserne Kälte schwand. Unter dem Schleier sah er das Leuchten ihrer Augen. Sein Körper wollte ihm nicht, gehorchen, sein Kopf schmerzte, sein Magen krampfte sich zusammen.
    Und dann war es, als ob der Blitz dieser Rune in ihn gefahren sei, in seinen tauben, verstörten Kopf, zwischen seine Beine. Sie war noch Jungfrau gewesen, doch er nahm es kaum wahr. In seinem Wahn riß er ihr den Schleier vom Gesicht, aber, als hätte die alte Runenmeisterin ihn verhext, konnte er sich später nicht an das Gesicht erinnern. Er verlor sich in dem warmen, namenlosen Körper der Frau und blieb erschöpft und mit rasenden Kopfschmerzen auf ihr liegen, bis ihn jemand sanft auf die Beine stellte und ihm Wasser zu trinken gab. Er trank gierig und sah, wie sie die Frau in Sigruns Mantel hüllten und fortbrachten. Das Wasser schmeckte nach Schafgarbe und machte seine Sinne wieder klar. Der Schmerz in seinem Kopf ließ allmählich nach, und dann bemerkte er, daß der Tag anbrach. Der Mond war blaß geworden, ein Flaum dunkelroter Dämmerung lag über dem Wald.
    Sigrun ging zum Feuer und schüttete mit einer heftigen Geste Wasser darüber. Die Gruppe zerstreute sich. Jeder würde jetzt nach Hause gehen und mit der Gewißheit leben, daß die alten Götter von nun an unter sich bleiben würden.
    Götter starben wie Menschen, dachte Sigrun, traurig, alleingelassen und warteten auf ihre Auferstehung.

NAUTIZ
    Ç
    »Ein achtes kann ich,
das allen Männern zu vernehmen nützlich ist:
wenn Haß wächst unter Heldensöhnen,
kann ichs schlichten schnell.«

Die Runenmeisterin wurde zwei Tage später von den Bütteln aus Lüneburg abgeholt. Man brachte sie in die Stadt, doch kaum hatte man sie in eine Zelle geschafft, als sie dort zu Boden sank und starb. Der Arzt sagte, ihr Herz habe aufgehört zu schlagen, aber er ahnte, daß ihr Tod keine natürliche Ursache hatte. Es war eine Dosis Fingerhut, die sie sich selbst eingegeben hatte.
    Cai Tuam war scharf geritten. Schaum tropfte dem Hengst aus dem Maul, seine Flanken zitterten. Das Kloster stand an einer Stelle, wo einst ein heiliger Eichenhain gewachsen war. Die Eichen hatte man abgeholzt, weil in ihnen heidnische Götter gehaust hatten. Eine Glocke läutete zur Sixt. Der Ire führte das Pferd am Zügel und band es an einem Zaun fest. Er zog an einer abgegriffenen Klingelschnur. Eine Klappe in der Türe öffnete sich, ein Mädchengesicht erschien.
    »Ich möchte zu Schwester Leonia«, sagte der Ire. Das Gesicht verschwand. Die schwere Eichentür wurde geöffnet.
    »Wartet hier auf die Ehrwürdige Mutter«, sagte die junge Nonne.
    Er stand allem in einem frisch gekalkten Raum. Ein schlichtes Kreuz hing über dem Türrahmen, und er bekreuzigte sich. Die Äbtissin hatte ihn beobachtet und lächelte. Ihre Augen waren so blau wie Kornblumen. Noch nie hatte er so blaue Augen gesehen.
    »Ich möchte mit Schwester Leonia sprechen«, wiederholte er seine Bitte. »Ihre Mutter ist vor einer Woche gestorben.«
    Die Ehrwürdige Mutter nickte. »Ich hörte davon. Kann ich ehrlich mit Euch sein?«
    Er sah sie an, offen und direkt. »Ich war ein Freund ihrer Mutter. Ich dürfte das nicht sagen, aber wenn Ihr ehrlich zu mir seid, dann bin ich es auch.«
    Die Äbtissin drehte sich um. Er folgte ihr in ein kleines, holzvertäfeltes Zimmer. An einer Wand hing ein einfaches Tafelbild, das die Kreuzigung des Herren darstellte. Er wandte den Blick ab. Sie saßen auf harten Stühlen, getrennt durch einen Tisch.
    Die Äbtissin faltete die Hände und legte sie auf die Tischplatte. »Schwester Leonia ist aus Angst zu uns gekommen, nicht aus christlicher Überzeugung. Nun, in zwei Wochen wird sie dennoch die Gelübde ablegen, und sie hat, glaube ich, ihren Frieden gefunden. Von dem Tod ihrer Mutter habe ich ihr noch nichts erzählt, aber sie hat damit gerechnet. Es tut mir leid.«
    »Wirklich?«
    »Ja.« Sie senkte den Blick. »Ich bin nicht der Meinung, daß man Menschen zu etwas zwingen soll, was nicht ihrer Überzeugung entspricht. Schon gar nicht in Glaubensfragen. Ihr versteht, was ich damit sagen will? Ihr seid Christ, nehme ich an, trotz Eurer Freundschaft zu Schwester Leonias Mutter.«
    Er zögerte. »Ich bin getauft und besuche die Messe.« Der ewige alte Kanon, den er herunterbetete, wenn es nötig war. Aber er wollte diese kluge Frau nicht belügen. »Ich

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