Die Runenmeisterin
zweiflügliger Galgen. Rosalie sah einen Priester durch die Menge huschen. Glocken läuteten bleiern, und als sie verklangen, war die Menge noch stiller geworden. Es stank nach Tierkadavern, die nur hastig zur Straßenseite geräumt worden waren, weil die Gemeinde jeden Mann gebraucht hatte, um den Galgen zu zimmern. Ein Ochsenkarren rollte zum Marktplatz. Und dann sah sie den Iren. Er hatte den Platz betreten. Sein grüner Umhang flatterte im Wind. Van Neil stand neben ihm, sprach mit ihm. Der Ire schüttelte gereizt den Kopf. Rosalie dachte an den Spruch in der Bibel. Du sollst in meinem Namen kein Blut vergießen. Deshalb wurden Menschen gehängt. Und verbrannt. Weil Gott kein Blut sehen konnte. Ließ sich Gott so billig täuschen?
Rosalie sah den Iren, der jetzt Anweisungen gab, das Seil zu befestigen. Er wirkte ruhig und sicher. Sie konnte die Augen nicht abwenden. Der Mann da vorn hatte keine Angst vor dem, was er gleich tun mußte. Er würde es mit einer Ungerührtheit tun, daß ihr das Herz schwer wurde.
Soldaten zerrten einen noch recht jungen Mann das hölzerne Podest hinauf, der in einen wollenen, grauen Kittel gekleidet war. Den Kopf hatte man ihm geschoren, seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden.
Sein Blick glitt gehetzt über den Platz, da standen die Menschen wie eine Mauer, still und stumm, und gafften ihn an. Todeslüstern. Ein Soldat beugte sich zu dem Iren hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Cainnech Tuam sah auf und drehte sich um. Suchte er jemanden? Aber den da oben kannte Rosalie nicht mehr. Den, der jetzt Anweisungen gab nach links und nach rechts und den Galgen hinaufblickte. Der die Fesseln des Delinquenten prüfte und mit kalten zusammengekniffenen Augen das Galgentreppchen musterte, das nun gebracht wurde.
Rosalie wollte fort, doch die Menschen achteten nicht auf sie. Endlich ließ man ihr eine schmale Gasse, und sie begann zu laufen, zu rennen. Sie stürzte die Straße hinunter und rettete sich schließlich in eine leere Schenke.
Der Wirt grinste sie an. »Ist dir schlecht, Mädchen? Ja, der Tod ist nicht lustig.« Er brachte ihr ein Glas Branntwein, dessen Inhalt ihr den Magen zu versengen schien. Ihr Herz hämmerte so laut, daß sie glaubte, die ganze Welt würde unter diesem Lärm erzittern.
»Ruhig, ruhig«, sagte der Wirt sanft und strich ihr übers Haar. »In zehn Minuten ist alles vorbei. Diese Söldner sind geschickt, die machen das nicht zum ersten Mal. Kennst du ihn, ich meine, das arme Schwein am Galgen?«
Rosalie schüttelte den Kopf. Die Minuten verrannen. Sie starrte auf die leere Straße. Und langsam reifte in ihr ein Entschluß. Ihre Liebe war so plötzlich erloschen wie ein Feuer, auf das man ein Faß Wasser schüttet. Da war nur noch Abscheu. Und Leere. Gähnende schweigende Leere. Der Mann, den sie geliebt hatte, war ein Schlächter, ein Mörder, ein Tier und ein Ungeheuer. Gewiß, es war rechtens, was er tat, er hatte das Gesetz auf seiner Seite, Kaiser und Papst und alle Armeen dieser Welt. Man würde ihn dafür bezahlen, und das nicht schlecht. Er besaß ein unglaublich gutes Pferd, einen Araberhengst, den sie immer bewundert hatte und der ein Vermögen gekostet haben mußte. Jetzt glaubte sie zu wissen, woher dieses Vermögen kam.
Rosalie wollte nach Raupach zurück. Berthold war immer gut zu ihr gewesen, fast wie zu einer Tochter. Berthold war nicht grausam, bei ihm fühlte sie sich sicher.
Draußen vor der Tür regte sich wieder das Leben und riß sie aus ihren Gedanken. Menschen kamen an der Schenke vorbei, manche kehrten ein. Der Tod machte durstig und war für den Wirt ein gutes Geschäft. Die Leute begannen zu fachsimpeln über die Art und Weise der Hinrichtung. »Der Söldner verstand sein Handwerk«, sagte einer mit Bestimmtheit. »Das war keiner von den Stümpern, die ihre Opfer noch stundenlang am Strick hängen lassen, bevor sie ihr Leben aushauchen.«
Rosalie wollte das alles nicht hören. Sie stand auf und verließ die Schenke. Gemeinsam mit einem Ochsenkarren, der in ihr Lager fuhr, ritt sie zurück. Im Lager selbst packte sie ihre Sachen und sattelte ihr kleines Pferd erneut. Nur fort von hier, bevor der Ire zurückkam. Wenn sie Glück hatte, würde sie jemanden finden, der auch nach Raupach wollte, einen Bauern vielleicht oder auch einen Soldaten. Sie hatte keine Angst. Sie besaß ein Messer und einen Dolch. Und die Waffe, mit der sie nicht umgehen konnte, die war noch nicht erfunden worden.
Sie hatte niemanden
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