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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Groß
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sie einschlug. Die letzten Sonnenstrahlen schaukelten auf den Wellen. Aus dem Schilf drang das leise Gurren von Wasserhühnern, und ein Schwan trieb träge auf der Mitte des Sees.
    Sie lief auf kaltem Sand, einsam und verzweifelt. Hätte sie da auf die Zeichen gehört, die sich ihr offenbarten, ihr späteres und auch das Leben anderer wäre vielleicht anders verlaufen. Aber sie war eine Runenmeisterin und glaubte, das Schicksal zu kennen.
    Menschen dürfen sich irren, und die Nornen behaupten, jeder Mensch hat ein Recht darauf, Unglück in die Welt zu bringen. Rosalie saß an diesem Abend an dem Ufer des Wassers und warf die Runen. Sie zeigten ihr die Rune N AUTIZ , auch Not genannt. Ihr fiel ein alter Vers ein, den Sigrun ihr einmal vorgesagt hatte:
    Einen Riesen ritze ich und drei Runen:
Argheit und Unrast und Irresein, so ritze ich
es ab und wieder ein, wenn es nötig ist.
    Sie hätte es wissen müssen, daß diese Rune der ganzen Weisheit eines klugen Menschen bedarf, denn sie steht für Zwang und Nacht. Die Rune wollte sie warnen, ihr die eigene Lage vor Augen führen. Und sie zeigte eine Lage, in der Stillhalten und Warten die beste aller Möglichkeiten ist. In der man zusieht, wie die Dinge sich wandeln und entwickeln, ohne sich einzumischen, weil die Götter es so bestimmt haben. Doch Rosalie war geblendet von Einfalt. Vielleicht war es auch die Liebe, die einen Narren aus ihr gemacht hatte. Sie wollte nicht stillhalten und warten.
    Erst später begriff sie, daß es solch unauffällige Augenblicke sind, die das Leben der Menschen verändern. Doch wann beginnen Glück oder Unglück? Zum Zeitpunkt der Geburt, sagen die einen, die Fatalisten, denn die Nornen haben das Schicksal schon längst gesponnen. Andere suchen verzweifelt nach dem entscheidenden, dem wunden Punkt in ihrer Vergangenheit, um etwas daraus zu lernen. Das sind die, die das Schicksal wie einen rollenden Wagen am liebsten mit ihren Händen aufhalten würden. Die Wahrheit liegt, wie immer, in der Mitte. Es gibt den wunden Punkt, und es gibt Hochmut und Selbstüberschätzung.
    Not ist Nacht, ist Dunkelheit und die Möglichkeit zu handeln, die man verloren hat.
    Rosalie starrte betroffen auf dieses unheilvolle Zeichen und dachte an den Mann, der morgen am Galgen sterben würde. Not, Nacht, Tod. Da war es, ihr Schicksal, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur. Not, Nacht, Tod.
    Der Wind blies durchs Schilf und ließ es rascheln wie Pergament. Die Sonne war untergegangen. Rosalie stand auf und warf den Runenstein weit hinaus ins Wasser.

TEIWAZ
    Ë
    »Ein zwölftes kann ich,
sehe ich zittern im Wind den Gehenkten am Holz:
so ritze ich und Runen färb ich,
daß der Recke gehen kann und vom Galgen geht.«

Sie schlief die ganze Nacht nicht. Die Zeltwand flatterte im Sturm hin und her. Auch der Ire schlief schlecht. Wälzte sich herum und warf sein Schlaffell zur Seite. Sie deckte ihn wieder zu, denn die Luft war eisig kalt. Am Morgen stand er mit dunklen Ringen unter den Augen auf, sprach nicht, sondern drückte ihr nur einen Kuß auf die Stirn.
    Rosalie hatte sich geschworen, nicht hinzugehen. Die Rune, die sie gezogen hatte, hatte ihr deutlich vor Augen geführt, was das Gebot der Stunde war: sich zurückziehen und beobachten. Nicht eingreifen, keine Entscheidung fällen.
    »Wenn du siehst, wie alles sich regt und wandelt und jedes sich seiner Bestimmung zuführt, dann schau zu. Wenn du das nicht kannst, dann begebe dich in eine dunkle Höhle und verharre dort, bis die Zeit der Not vorbei ist.«
    Das war der Rat der Rune Not, den jede Runenmeisterin kannte. Und Rosalie suchte verzweifelt nach einer dunklen Höhle in ihrem Innern, in die sie sich hätte verkriechen können, aber sie fand keine. In ihr herrschten nur Aufruhr und Zorn, Trauer und Aufbegehren.
    Es war so still im Lager, daß sie sich nicht abzulenken vermochte. Sie ging verloren von Zelt zu Zelt, ließ sich den scharfen Wind um die Nase wehen und wurde immer unruhiger. Bis einer der Soldaten zurückkam. Da bat sie ihn wider besseres Wissen, sie mitzunehmen, und zusammen ritten sie in die Stadt.
    Sie lenkten ihre Pferde zum Marktplatz hinüber und mußten absteigen, weil die Straße von Menschen so verstopft war und kein Durchkommen mehr möglich. Die Stimmung war gedrückt. Es herrschte keine Ausgelassenheit und kein Spektakel wie sonst bei derartigen Anlässen. Die Menschen drückten sich eng aneinander, die Garküchen waren überfüllt und die Schenken ebenso.
    Auf dem Markt stand ein

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