Die Runenmeisterin
hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Hatte gestern noch todkrank im Bett gelegen. Aber sie hatte endlich gefunden, wonach sie seit zwei Jahren suchte – so dringend suchte, wie manche verzweifelte Menschen nach Drachenblut. Sie hatte ihr Drachenblut endlich gefunden.
Sie raffte ihre Röcke auf und lief in den Nebel hinaus. Aber der Zug war längst weit weg. Nur das Knarren der Ochsenwagen hallte noch durch den wabrigen Dunst …
Sie waren fort, und Maria blieb mit ihrem Haß allein. Rosalie hatte ihr keinen gelassen, Cai Tuam nicht und Monreal nicht. Aber Maria hatte Zeit. Ein Wort nur, und die Hexe würde sterben. Jetzt besaß Maria das Wissen, das ihr Macht verlieh.
Die ersten Tage nach der Abreise des Kaisers verbrachte sie in der triumphierenden Gewißheit ihrer Überlegenheit. Genoß die Ruhe, die herrschte, und den Nebel, der sie unsichtbar machte, als ginge sie mit einer Tarnkappe umher. Dann ging sie in Rosalies Garten, wanderte durch dieses grausilberne Kräutergespinst, in dem ihre Schritte die Aura seiner Besitzerin störten. So als werfe man einen Stein in ein stehendes Gewässer.
Die junge Esche in der Mitte trug ihre ersten Blätter, in den drei Brunnen glänzte schwarzes Wasser. Überall blühte das Kraut ihrer Kindheit, die Pfefferminze mit ihren rosa Blütenköpfen, und erinnerte sie an ihre Mutter. Verblühtes Ochsenauge, Alant und giftiges Bilsenkraut wuchsen in Form zweier sich gegenüberliegender Dreiecke, und dann bemerkte Maria, daß der gesamte Garten nach einem seltsamen System aufgebaut schien. Im Norden lag ein Brunnen, und einer im Süden, und einer in der Mitte dazwischen, und neben diesem wiederum stand die Esche. Links und rechts dieser Mittelachse lagen die Beete, wieder drei untereinander in Dreiecken angeordnet.
Maria warf Steine in die Brunnen und riß die jungen Pflanzen aus der Erde. Sie zerstörte das Prinzip dieses Gartens, das sie nicht verstehen konnte. Sie ließ Erde in die Brunnen rieseln und warf die mit den Wurzeln ausgerissenen Pflanzen über die kleine Mauer, die den Garten umgab. Und dann blieb sie stehen und lauschte der ungewöhnlichen Stille ringsum. Die Vögel hatten aufgehört zu singen.
Maria ging zurück. Einmal kam ihr kurz der Gedanke, daß sie sich täuschen könne und Rosalie zu Unrecht verdächtige, aber sie schüttelte ihn ab und wollte nichts davon wissen. Endlich fügten sich alle Steinchen zu einem Mosaik zusammen, und sie wollte es nicht wieder auseinanderreißen. Sie wollte ihren Zorn auskosten und stieg zu Bertholds Kammer hinauf.
Ihr Herr lag im Bett und las. Sie setzte sich zu ihm und nahm ihm das Buch aus der Hand. Er lächelte.
»Ich war in Rosalies Garten«, sagte sie. Er nickte nur. Dachte an die Soldaten, die jetzt auf dem Weg nach Lübeck waren.
»Rosalie hat rote Haare und kann mit einer Armbrust umgehen«, fuhr Maria fort, »die schießt wie ein Mann.«
Berthold blinzelte in die Sonne, die zum Fenster hereinschien. Sein Kopf war ganz klar, so klar wie selten. Ohne Schmerzen, ohne Druck. Nur das Fieber ließ ihn frösteln.
»Rosalie?« fragte er verblüfft.
»Ja, sie hat Monreal umgebracht.« Und dann erzählte sie von dem Treffen am alten Stein, von der alten Sigrun, von Monreal, der das Treffen beobachtet hatte. Noch nie im Leben war sie so ruhig gewesen. Sie entblätterte ihr Wissen, ihre Macht, und wartete auf den großen Donnerschlag.
Berthold war bleich geworden. Er lauschte ihr mit wachsendem Entsetzen und spürte, wie sein Herz klopfte. »Warum hast du mir nicht früher davon erzählt?« fragte er endlich ungläubig.
»Warum? Es ist vorbei. Sie treffen sich nicht mehr. Aber die Hexe muß sterben.«
Er starrte sie an. »Bist du von Sinnen? Willst du, daß alles wieder von vorn beginnt? Martin hat seinen Templer gefunden, damit hat die Sache ein Ende. Ich schicke Rosalie fort, wenn sie wiederkommt – mag sie sehen, wo sie bleibt. Alles andere schlag dir aus dem Kopf. Und jetzt laß mich allein.«
Maria blieb sitzen. Sie konnte es nicht glauben. »Nein«, zischte sie, »ich will, daß Monreals Tod gerächt wird.«
Sie wußte, daß sie hätte gehen müssen, aber sie wollte Blut sehen, wollte die Wahrheit ans Licht zerren wie einen lichtscheuen Gefangenen, der Jahre in einem nachtschwarzen Kerker gesessen hat. Und sie erzählte ihm alles, ihm, der so unschuldig war und für nichts, was geschehen war, etwas konnte. Sie erzählte von Monreal, den sie geliebt und den die Hexe totgeschossen hatte, und von Cai Tuam,
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