Die russische Gräfin
der Lord Chancellor nicht so leicht täuschen. »Ich nehme doch an, Sie können die Gräfin daran hindern, vor Gericht noch größeren Schaden als ohnehin schon anzurichten? Sie müssen sie irgendwie davon überzeugen, daß sie nichts zu gewinnen, aber um so mehr zu verlieren hat.« Er musterte Rathbone mit prüfendem Blick.
Ein Ausweichen war jetzt nicht mehr möglich. Und die Antwort mußte konkret sein.
»Sie muß auf die Zukunft ihres Landes Rücksicht nehmen«, erklärte Rathbone. »Sie wird nichts tun, womit sie seinem Unabhängigkeitskampf schaden könnte.«
»Ich finde das in keinster Weise beruhigend, Sir Oliver«, erwiderte der Lord Chancellor streng.
Rathbone zögerte. Er hatte schon überlegt, ob er Zorah wenigstens eindringlich bitten solle, Königin Ulrike nicht hineinzuziehen. Aber wenn sein Gegenüber noch gar nicht an diese schlimmste aller möglichen Katastrophen gedacht hatte, dann wollte er sie auch nicht heraufbeschwören.
»Sie ist eine glühende Patriotin«, entgegnete er. »Ich werde ihr klarmachen, daß bestimmte Vorwürfe oder Andeutungen den Interessen ihres Landes schaden würden.«
»Werden Sie das?« fragte der Lord skeptisch. Rathbone lächelte.
Der Lord Chancellor erwiderte das Lächeln mit düsterer Miene und trank sein Glas leer.
Seine Worte klangen Rathbone noch am Tag darauf, als der Prozeß begann, in den Ohren. Ganz London erwartete den »Verleumdungsfall des Jahrhunderts«, und so war es kein Wunder, daß der Gerichtssaal lange vor der Eröffnung der Verhandlung durch den Richter zum Bersten voll war. Sogar auf den Stehplätzen hinten drängelten sich die Leute. Die Gerichtsdiener hatten alle Hände voll zu tun, die Gänge einigermaßen frei zu halten.
Bevor er den Saal betrat, versuchte Rathbone ein letztes Mal, Zorah zum Nachgeben zu bewegen. »Noch ist es nicht zu spät«, drängte er. »Geben Sie doch einfach zu, Ihre Trauer hätte Sie zu unbedachten Aussagen hingerissen.«
»Ich bin zu nichts hingerissen worden«, sagte sie mit einem ironischen Lächeln. »Ich habe meine Worte sehr wohl bedacht und stehe dazu.« Sie trug heute die Farben Rot und Braun. Ihre Jacke schmiegte sich an ihre schmalen Schultern und ihren geraden Rücken, und ihr Kleid fiel in fließender Linie über die Reifen. Sie sah wunderbar aus. Die Wirkung war freilich verheerend. Absolut nichts erweckte den Eindruck von Schuldbewußtsein oder tiefer Trauer.
»Ich gehe ohne Waffen in diese Schlacht!« hörte Rathbone sich verzweifelt rufen. »Ich stehe immer noch mit leeren Händen da!«
»Sie haben Ihr großes Geschick.« Sie lächelte ihn mit vor Zuversicht leuchtenden Augen an. Ob der Optimismus echt oder aufgesetzt war, vermochte Rathbone aber nicht zu beurteilen. Wie immer schlug sie seine Warnung mit einer entwaffnend schlichten Antwort in den Wind. Keiner von Rathbones Mandanten war je so verantwortungslos gewesen oder hatte seine Geduld derart überstrapaziert.
»Ohne Waffe kann auch der beste Schütze der Welt nichts ausrichten«, protestierte er. »Und ohne Munition!«
»Sie werden schon was finden.« Sie reckte das Kinn. »Nun, Sir Oliver, ist es nicht an der Zeit, sich ins Getümmel zu stürzen? Der Gerichtsdiener winkt uns schon zu sich. Sehen Sie diesen kleinen Mann dort nicht? Gerichtsdiener ist doch der richtige Ausdruck, oder?«
Rathbone gab keine Antwort, trat aber höflich beiseite, damit sie vorangehen konnte. Er straffte die Schultern, zupfte sich zum x-ten Mal das Halstuch zurecht, womit er es allerdings eher verrückte, und betrat den Gerichtssaal.
Schlagartig erstarb das Getuschel. Alle starrten erst ihn und dann Zorah an. Erhobenen Hauptes, den Rücken durchgestreckt und ohne sich nach links oder rechts zu drehen, schritt sie über den schmalen Gang zum für die beklagte Partei vorgesehenen Pult.
Protestgemurmel wurde laut und legte sich gleich wieder. Jedermann wollte die Frau sehen, die es in beispielloser Niedertracht gewagt hatte, eine so ungeheure Beschuldigung gegen eine der Heldinnen der Epoche zu erheben. Die Leute reckten die Hälse und starrten sie haßerfüllt an. Rathbone, der ihr folgte, konnte die feindselige Stimmung förmlich riechen. Er zog für Zorah den Stuhl hinter dem Pult hervor, und sie setzte sich mit formvollendeter Eleganz.
Das allgemeine Getuschel und Geflüster setzte von neuem ein. Doch einen Moment später herrschte wieder Stille, als die Tür aufging und Kronanwalt Ashley Harvester sie seiner Mandantin, der verwitweten Prinzessin
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