Die russische Gräfin
Ruhm, egal welcher Art, lieber war als alles andere. Ignoriert zu werden kam in ihren Augen dem Tod gleich. Für sie war das ein alles verschlingendes schwarzes Loch, vor dem ihnen graute. Bevor sie da hineinfielen, wollten sie sogar lieber verabscheut werden.
War sie verrückt?
Wenn ja, dann fiel ihm die Verantwortung zu, für sie und in ihrem besten Interesse zu entscheiden, bevor sie sich noch selbst zerstörte. Man hatte nicht nur eine moralische Verpflichtung gegenüber den Wahnsinnigen, sondern auch einen gesetzlichen Auftrag. Bislang hatte er Zorah als einen Menschen behandelt, der zu rationalen Urteilen fähig war und die Folgen seiner Handlungen absehen konnte. Vielleicht aber war das bei ihr schon nicht mehr der Fall. Vielleicht stand sie unter einem inneren Zwang, den er nicht bemerkt und an dem er infolgedessen als Anwalt und Mensch gescheitert war.
Er betrachtete ihr Gesicht. Verbarg ihre Ruhe nicht vielmehr eine Unfähigkeit, zu verstehen, was geschehen war, und zu erkennen, daß es nur noch schlimmer werden würde?
Er machte den Mund auf, wußte aber plötzlich nicht mehr, was er sagen wollte. So sah er hinab auf ihre im Schoß liegenden Hände. Sie waren zu Fäusten geballt und zitterten. Er musterte wieder ihr Gesicht, und jetzt erkannte er, daß der starre Blick, der vorgeschobene Kiefer nicht von Gleichgültigkeit oder Unkenntnis herrührten, sondern von einer Angst, die weit tiefer lag als die seine, und dem Wissen, daß das, was auf sie zukam, häßlich und schmerzhaft sein würde.
Er wandte die Augen ab und überlegte, wie es weitergehen sollte. Seine Verwirrung hatte zustatt abgenommen, und er wußte sich keinen Rat, was seinen nächsten Schritt betraf.
Rathbone war seit über zwei Stunden zu Hause, als ihm sein Diener Hester Latterlys Besuch meldete. Einen Moment lang war er erleichtert, doch dann sank seine Stimmung wieder, als ihm klar wurde, daß er ihr nichts Gutes, ja, nicht einmal einen Hoffnungsschimmer ankündigen konnte.
»Bitten Sie sie herein!« sagte er schärfer als gewollt. Es war eine kalte Nacht. Da sollte sie nicht unnötig warten.
»Hester!« rief er freudig, als sie sich in der Tür zeigte. Sie sah reizender aus, als er sie in Erinnerung hatte. Ihr Gesicht hatte Farbe bekommen, und das stand ihr außerordentlich gut. Ihre sanften Augen drückten Anteilnahme aus, die ihm sofort einen Teil der Spannung nahm. Sogar seine Ängste fielen für einen Moment von ihm ab. »Treten Sie ein«, bat er herzlich. Er hatte bereits gegessen und nahm dasselbe von ihr an. »Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten? Port vielleicht?«
»Noch nicht, danke«, lehnte sie ab. »Wie geht es Ihnen? Und wie fühlt sich Gräfin Rostova? Ich habe die häßliche Szene gesehen, als sie das Gericht verließ.«
»Sie waren auch da? Ich habe Sie gar nicht gesehen.« Er trat beiseite, damit sie sich vor dem Kamin wärmen konnte. Erst danach dämmerte ihm, was für ein ungewöhnliches Angebot das war. Normalerweise hätte er einer Frau nie bewußt den Platz vor einem Feuer überlassen, schon gar nicht vor seinem eigenen! Das zeigte nur, wie aufgewühlt er war.
»Kein Wunder«, meinte sie mit einem schiefen Lächeln. »Wir waren so eng zusammengepfercht, daß kein Blatt zwischen uns gepaßt hätte. Wen können Sie jetzt noch um Hilfe bitten? Hat Monk wenigstens ansatzweise etwas Nützliches herausgefunden? Was, um Himmels willen, macht er denn jetzt?«
Wie um ihre Frage zu beantworten, kehrte der Diener zurück und meldete Monks Ankunft. Nur verzichtete Monk darauf, in der Vorhalle zu warten, und war dem Diener so dicht gefolgt, daß dieser beim Hinausgehen fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Aber er faßte sich sofort und ließ sich von Monk Mantel und Hut reichen. Beides war naßgeregnet.
Hester, die direkt vor dem Feuer stand, trat einen kleinen Schritt zur Seite, damit auch Monk etwas von der Wärme abbekam. Ansonsten gab sie sich nicht mit höflichen Floskeln ab. Sie fiel gleich mit der Tür ins Haus: »Was haben Sie in Wellborough Hall herausgefunden?«
Monk verzog irritiert das Gesicht. »Nur Bestätigungen dessen, was wir ohnehin schon wissen«, beschied er sie knapp. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint es mir, daß der Anschlag Gisela galt.«
Hester starrte ihn konsterniert an. »Können Sie das beweisen?« rief sie wütend.
»Natürlich kann ich es nicht beweisen!« bellte er. »Könnte ich es, hätte ich nicht von erscheint es mir‹gesprochen, sondern klipp
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