Die russische Gräfin
von Neidern und anderen, die sie aus persönlichen Gründen seit Jahren hassen, weitergetragen würde. Sie haben damit sozusagen scharfe Munition bekommen, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Prinzessin allein und besonders verletzlich ist. Ist das zutreffend?«
Evelyn nickte. »Ja, das ist richtig.«
»Danke, Gräfin. Bitte bleiben Sie noch im Zeugenstand. Sir Oliver wird die eine oder andere Frage an Sie richten wollen.« Rathbone erhob sich, wenn auch nur, um das Feld nicht kampflos seinem Gegner zu überlassen. Er überlegte fieberhaft , wie er seine Schlußfolgerungen von gestern abend mit einfließen lassen konnte. Aber wie sollte das ausgerechnet bei einer Zeugin gelingen, die Harvester so umsichtig befragt hatte? Außerdem hatte er nur das Recht auf ein Kreuzverhör, aber nicht auf die Verbreitung von politischen Spekulationen.
»Gräfin von Seidlitz«, begann er nachdenklich und sah zu ihrem so ernsten wie bezaubernden Gesicht auf. »Prinzessin Giselas Feinde, die Sie erwähnt haben – sind das einflußreiche Leute?«
Evelyn wirkte überrascht und um eine Antwort verlegen. Rathbone lächelte sie an. »Zumindest hier in England und , wie ich glaube, in fast allen Ländern haben wir sehr romantische Vorstellungen von den Menschen, die uns eine so große Liebe vorleben.« Er mußte äußerst behutsam vorgehen. Sobald die Geschworenen eine Äußerung als Angriff auf Gisela werteten, würde die Stimmung gegen ihn umschlagen. »Wir wünschen uns vielleicht, wir wären an ihrer Stelle. Vielleicht beneiden wir sie auch um ihr Vermögen; aber doch nur diejenigen, die früher einmal in einen der beiden verliebt waren, sind ihnen wirklich böse. Ist das in Ihrem Land nicht genauso? Oder in Venedig, wo die Prinzessin seit ihrer Hochzeit die meiste Zeit verbracht hat?«
Tiefe Falten bildeten sich auf ihrer Stirn. »Ahm… ja.
Natürlich lieben wir unsere Geliebten…« Sie gab ein unsicheres Lächeln von sich. »Das ist doch auf der ganzen Welt so, oder? Wir bilden da keine Ausnahme. Aber trotzdem nehmen einige Leute Friedrich übel, daß er abgedankt hat. Das ist der Unterschied.«
»In Venedig, Gräfin?« fragte er überrascht. »Ist das den Venezianern tatsächlich so wichtig?«
»Nein… ihnen natürlich…«
Harvester stand auf. »Euer Ehren, welchen Zweck verfolgt mein gelehrter Freund mit diesen Fragen? Ich vermag keinen zu erkennen.«
Der Richter sah Rathbone bedauernd an. »Sir Oliver, Sie erkundigen sich nach Dingen, die uns bereits bekannt sind. Bitte gehen Sie zu etwas Neuem über, sofern Sie noch Fragen haben.«
»Sehr wohl, Euer Ehren.« Rathbone setzte alles auf eine Karte. Er hatte ja nichts zu verlieren. »Die Feinde, die, wie Sie vorhin andeuteten, Prinzessin Gisela schaden könnten, waren in Felzburg, richtig?«
»Ja.«
»Weil es den Venezianern egal ist. In Venedig wimmelt es, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, von Angehörigen königlicher Geschlechter, die aus dem einen oder anderen Grund Thron oder Krone verloren haben. Aber in der Gesellschaft gilt eine ehemalige Prinzessin weiter als Prinzessin. Wie auch immer, Prinzessin Gisela hat sich in die selbstgewählte Klausur zurückgezogen und nimmt keine Einladungen an. Ihre Freunde aber, und das ist das, woran ihr liegt, bleiben ihr treu ergeben.«
»Ja…« Evelyn stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
»Gehe ich recht in der Annahme, daß die Feinde, die ihr tatsächlich schaden können, nicht irgendwelche verflossene Bewunderinnen von Prinz Friedrich sind, sondern Leute mit Macht und Einfluß?«
Evelyn starrte ihn stumm an.
»Sind Sie sicher, daß Sie eine Antwort auf diese Frage wünschen, Sir Oliver?« fragte der Richter besorgt.
Sogar Harvester schaute verdattert drein. Evelyns Aussage würde Zorah doch bestimmt eher schaden als nützen.
»Doch, bitte, Euer Ehren«, sagte Rathbone. Der Richter nickte Evelyn zu. »Gräfin…«
»Na ja…« Evelyn konnte sich jetzt nicht in Widersprüche verwickeln. Ihre Augen suchten Harvester, dann sah sie Rathbone voller unverhohlener Antipathie an. »Ja, einige von ihnen sind mächtig.«
»Politische Feinde vielleicht?« setzte Rathbone nach. »Leute, denen das Schicksal ihres Landes über alles geht? Leute, die verzweifelt für seine Unabhängigkeit streiten, oder aber Leute, die sich für seine Integration in ein großdeutsches Reich einsetzen, was den Verlust seiner Eigenständigkeit und natürlich auch der Monarchie bedeuten würde?«
»Ich…, ich weiß
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