Die russische Gräfin
haben. Ebensowenig habe ich mich mit Gisela unterhalten. Ich habe immer mehr das Gefühl, überhaupt nichts über die Beteiligten in diesem Fall zu wissen.«
»So langsam glaube ich, daß es uns allen so geht!« rief Monk mit einem abrupten Auflachen.
»Ich werde versuchen, meine persönlichen Urteile zu vergessen und ganz rational an die Sache heranzugehen.« Rathbone griff nach dem Schürhaken und stocherte damit im Feuer herum. Als es knisternd in sich zusammenfiel, legte er mit Hilfe einer Zange ein paar Kohlenstücke nach. »Anscheinend hat mich meine Menschenkenntnis diesmal im Stich gelassen.« Er errötete leicht. »Am Anfang dachte ich wirklich, Zorah hätte recht, und Gisela hätte Friedrich vergiftet.«
Monk nahm Rathbone gegenüber Platz und stützte die Ellenbogen auf die Knie. »Lassen Sie uns das betrachten, was zweifelsfrei feststeht, und uns überlegen, was wir daraus ableiten können. Vielleicht haben wir bisher die falschen Schlußfolgerungen gezogen.«
Rathbone nickte friedfertig. Das hatte es noch nie gegeben! Widerstandslos ließ er sich von Monk einen Befehl gefallen – ein weiteres Zeichen für seine Verzweiflung. »Friedrich stürzte vom Pferd und erlitt schwere Verletzungen. Er wurde von Dr. Gallagher behandelt.«
Monk zählte die einzelnen Punkte an den Fingern mit, während Rathbone mit seiner Aufzählung fortfuhr.
»Er wurde von Gisela gepflegt. Niemand sonst hatte Zugang zu ihm, außer den Dienstboten, dem Prince of Wales…« Er schnitt eine Grimasse.
»Er schien auf dem Weg der Besserung«, ergänzte Monk.
»Zumindest war das der allgemeine Eindruck.«
»Ein wichtiger Punkt«, stimmte Rathbone zu. »Damit stiegen die Chancen, ihn nach Felzburg zurückzuholen.«
»Nein, das stimmt nicht«, hielt ihm Hester entgegen. »Sein Bein war an drei Stellen gebrochen, zerschmettert, wie Dr. Gallagher sagte. Damit hatte Gisela praktisch gewonnen. Er hätte der Unabhängigkeitspartei bestenfalls als Symbol nützen können – und sie brauchten doch weitaus mehr! Von einem Behinderten, der ständig unter Schmerzen litt und schnell ermüdete, hätten sie nichts gehabt.«
Die zwei Männer starrten sie verblüfft an. Dann wechselten sie einen langen Blick. Rathbone sah aus wie ein geschlagener Mann, und selbst Monk wirkte auf einmal erschöpft.
»Es tut mir leid«, sagte Hester. »Aber es ist nun mal so. Die einzigen, denen an seinem Tod gelegen haben kann, sind die Leute von der Unabhängigkeitspartei, denn damit hatten sie das Recht, sich einen neuen Führer zu suchen.«
Längeres Schweigen trat ein. Als das Feuer jäh aufflackerte, wurde es Monk zu heiß. Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte. »Aber offensichtlich war niemand mit ihm allein«, murmelte er schließlich. »Die Türen waren nie verschlossen, und die Bediensteten kamen und gingen. Alle bestätigen, daß Gisela die Suite nie verließ.«
»Dann muß das Essen auf dem Weg von der Küche zu seinem Zimmer vergiftet worden sein«, sagte Rathbone. »Aber das wissen wir ja längst. Es wurde Eibengift hineingemischt. Auch das ist bekannt. Es hätte jeder im Haus sein können, nur daß uns ein Rätsel ist, wie das Gift zubereitet wurde.«
»Es sei denn, der Mörder hatte es schon mitgebracht«, spann Monk den Gedanken fort. »Er muß angenommen haben, daß es auf einem so großen Anwesen wie Wellborough Hall oder auf dem nahegelegenen Friedhof ganz sicher Eiben gibt. Aber wie wäre es denn, wenn Rolf es mitgebracht hätte, in der Absicht, es zu benutzen, falls Friedrich ablehnte…, um dann Gisela die Schuld in die Schuhe zu schieben?«
»Alles falsch«, sagte Hester ruhig. »Das Gericht verlangt eine lückenlose Beweiskette. Gisela kann es nicht gewesen sein…, aber mit dem bißchen, was wir wissen, kommen wir nicht weiter.«
Wieder verstummten sie für mehrere Minuten. Rathbone starrte ins Feuer, Monk grübelte vor sich hin, während Hester von einem zum anderen sah. Sie wußte genau, daß bei beiden wie auch bei ihr unmittelbar unter der Oberfläche die Angst hockte – bedrückend und unbestreitbar real. Sie klammerten sich geradezu an ihre Überlegungen; in dem Moment, in dem sie davon abließen, müßten sie sich unweigerlich ihr Scheitern und die damit verbundenen Folgen eingestehen.
Hester stand auf. »Ich glaube, ich suche Zorah Rostova selbst auf. Ich möchte persönlich mit ihr sprechen.«
»Weibliche Intuition?« spottete Monk.
»Neugierde«, fauchte sie. »Aber wenn Sie beide schon bei ihr waren und
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