Die russische Gräfin
wieder nicht. Eins mußte der Neid ihr lassen: Bei Schmerz, Angst, Trauer oder Schuld gab es auf der ganzen Welt keinen stärkeren, mutigeren oder geduldigeren Menschen als Hester. Niemand konnte versöhnlicher sein. Er schätzte diese Eigenschaften über alle Maßen. Und zugleich ärgerten sie ihn. Die Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, waren lustig, charmant, unkritisch, redeten, schmeichelten und lachten im richtigen Moment, verstanden es, sich zu vergnügen, zeigten sich empfänglich für kleine Freuden, wiesen jedoch nie die großen Dinge von sich, teure Geschenke zum Beispiel, und sie gingen auf ihn ein, paßten sich an.
Andererseits hatte gerade Hester ihm nach seinem bitteren Abschied von der Polizei seine Räume eingerichtet, damit sie auf die Klienten ansprechender wirkten. Und das mußten sie auch. Schließlich waren seines Wissens Ermittlungen das einzige, wovon er eine Ahnung hatte.
So stand er nun in seinem Salon und las Rathbones knappen Brief.
Mein lieber Monk, ich habe einen neuen Fall, der diskrete und vermutlich sehr komplizierte Ermittlungen erfordert. Wenn es zum Prozeß kommt, ist mit einem erbitterten Streit zu rechnen. Die Beweisführung wird äußerst schwer sein. Falls Sie sich bereit und in der Lage sehen, diesen Auftrag zu übernehmen, finden Sie sich bitte zum frühestmöglichen Zeitpunkt in meiner Kanzlei ein. Ich werde versuchen, Ihnen zur Verfügung zu stehen.
Ihr ergebenster Oliver Rathbone Merkwürdig, so dürftig waren Rathbones Informationen sonst nie. Er wirkte besorgt. Aber wenn der weltläufige und leicht arrogante Rathbone nervös war, dann reizte allein das schon Monks Neugier. Ihre Beziehung war geprägt von höchst widerwillig gezolltem gegenseitigem Respekt, gemischt mit immer wieder aufflackernder Antipathie als Folge von Arroganz, ihrer Ähnlichkeit, was Ehrgeiz und Intelligenz betraf, und unverträglichen Unterschieden im Wesen, gesellschaftlichen Hintergrund und beruflichen Werdegang. Was sie gemein hatten, das waren die zusammen mit aller Leidenschaft ausgefochtenen Fälle, egal ob sie mit Desaster oder Triumph geendet hatten, und größte Achtung vor Hester Latterly, in der aber keiner mehr sehen wollte als bloße Freundschaft.
Monk zog sich lächelnd seinen Frack an, trat in die Fitzroy Street hinaus und winkte eine Droschke herbei, die ihn zu Rathbones Kanzlei in die Vere Street brachte.
Nachdem Rathbone ihn in aller Form beauftragt hatte, suchte Monk die Gräfin kurz vor vier Uhr nachmittags in deren Residenz am Picadilly Circus auf. Seiner Einschätzung nach war sie um diese Zeit noch am ehesten anzutreffen; schließlich mußte sie sich fürs Dinner umziehen. Vorausgesetzt, sie ging überhaupt noch auswärts essen, denn nach ihren schockierenden Anschuldigungen war sie wohl aus den meisten Gästelisten gestrichen worden.
Eine Zofe, vermutlich eine Französin, erschien in der Tür. Sie war klein, dunkelhaarig und sehr hübsch. Monk erinnerte sich vage, daß nur die vornehmsten Damen sich französische Bedienstete leisten konnten. Nun, dieses Mädchen sprach ganz gewiß mit auffälligem Akzent.
»Guten Tag, Sir.«
»Guten Tag.« Monk hielt es nicht für nötig, sich um ihre Gunst zu bemühen. Nicht er brauchte Hilfe, sondern die Gräfin, sofern sie sich nicht in eine absolut hoffnungslose Lage hineinmanövriert hatte. »Mein Name ist William Monk. Sir Oliver Rathbone« – der Titel ›Sir‹ war ihm gerade noch eingefallen –»hat mich gebeten, Gräfin Rostova aufzusuchen und ihr meine Dienste anzubieten.«
Sie lächelte ihn an. Sie war wirklich äußerst hübsch.
»Aber natürlich. Bitte treten Sie ein.« Sie machte die Tür weiter auf und wartete, bis er im geräumigen, doch ansonsten unauffälligen Vestibül stand. Auf einem Blumentisch stand eine große Vase voller Margeriten, die einen herrlich frischen Duft nach Sommer verbreiteten. Das Mädchen schloß hinter ihm die Tür und führte Monk in den nächsten Raum und bat ihn zu warten, bis sie ihre Herrin verständigt hatte.
Wie vor ihm auch schon Rathbone stachen Monk das riesige Tuch mit den Erdfarben, der Ebenholztisch mit dem silbernen Samowar, die Felle auf dem Boden und das rote Ledersofa ins Auge. Obwohl das alles fremdartig für ihn war und überhaupt nicht seinem Geschmack entsprach, konnte er nicht sagen, daß er sich unbehaglich fühlte. Er fragte sich, was Rathbone davon gehalten hatte. Nun, offenbar wohnte hier jemand, der sich nicht um Konventionen scherte. Er schlenderte
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