Die russische Gräfin
wieder laufen.«
Erneut sagte er lange nichts.
»Werden Ihre Schmerzen irgendwann nachlassen?« fragte er zu guter Letzt.
»Nein. Mir wurde gesagt, daß ich mich damit abfinden muß.« Er holte Luft, als setze er zur nächsten Frage an, über ihren Unterhalt oder die Gründe ihrer Angst vor Kälte und Hunger vielleicht, aber trotz seiner Verzweiflung wahrte er nun wieder die höfliche Distanz.
»Das tut mir leid.«
»Das glaube ich Ihnen gern. Aber es hilft weder mir noch Ihnen etwas, wenn wir wissen, daß wir nicht die einzigen sind, die leiden.«
Er wandte sich ab. Daß ihm dabei die weichen braunen Haare ins Gesicht fielen, schien er gar nicht zu registrieren. Das Sonnenlicht warf helle Muster auf den Boden.
»Wahrscheinlich werden Sie mir gleich sagen, daß es mit der Zeit besser wird«, stieß er bitter hervor.
»Ganz bestimmt nicht«, entgegnete sie. »Es gibt Tage, an denen es besser ist, und dann wird es wieder schlechter. Aber wenn der Körper nicht kann, dann muß man eben mit dem Geist das Beste aus dem Leben machen.«
Diesmal blieb seine Antwort aus. Schließlich stand Victoria auf. Im Sonnenlicht sah Hester Tränen auf ihrem Gesicht schimmern. »Es tut mir leid«, sagte sie sanft. »Vielleicht hätte ich lieber nichts sagen sollen. Ich war zu voreilig. Vielleicht war ich die falsche Person, die darüber geredet hat. Ich habe es getan, weil es denen, die Sie so sehr lieben, zu schwerfällt. Außerdem waren sie nie in Ihrer Situation.« Sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Sie wissen nicht, ob sie ehrlich sein sollen oder nicht oder wie sie es Ihnen beibringen sollen. Sie zermartern sich in schlaflosen Nächten das Hirn und können sich nicht entscheiden.«
Er drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu ihr um. »Aber Sie können es? Sie wurden auch mal verletzt, und darum wissen Sie alles! Sagen Sie bloß, daß Sie deswegen das Recht haben, zu entscheiden, was Sie mir wann und wie sagen!«
Victoria sah drein, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen, aber sie gab nicht nach. »Wird es morgen oder nächste Woche anders sein?« Sie gab sich Mühe, mit fester Stimme zu sprechen. Es gelang ihr nicht ganz. »Sie liegen da und grübeln. Und wagen es nicht, die Worte auszusprechen. Nicht einmal in Gedanken! Als ob sie Ihre Lage noch realer machen könnten! Ein Teil Ihrer selbst hat sich ihr schon gestellt, ein anderer schreit noch, das sei alles nicht wahr. Wie lange wollen Sie noch mit sich selbst kämpfen?«
Er gab keine Antwort, sondern starrte sie nur stumm an.
Sie atmete tief durch, straffte die Schultern und humpelte zur Tür. Fast stieß sie dabei einen Stuhl um. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um. »Danke, daß Sie Tristan und Isolde mit mir geteilt haben. Ich habe Ihre Gesellschaft und unsere gemeinsame Reise durch die Welt der Gedanken genossen. Guten Abend.« Ohne seine Reaktion abzuwarten, stieß sie die Tür ganz auf und ging die Treppe hinunter.
Hester ließ Robert allein, bis es Zeit war, ihm das Abendessen zu bringen. Er lag noch genauso da, wie Victoria ihn verlassen hatte, und wirkte deprimiert.
»Ich will nichts essen«, murmelte er, als er sie bemerkte.
»Und sagen Sie mir nicht, das würde mir guttun. Ich würde daran ersticken.«
»Das hatte ich auch nicht vor«, sagte Hester gelassen. »Sie haben recht. Vielleicht brauchen Sie wirklich Zeit für sich allein. Soll ich die Tür schließen und die anderen bitten, Sie nicht zu stören?«
Er sah sie erstaunt an. »O ja, bitte tun Sie das.«
Sie nickte, und nachdem sie die Tür zum Flur geschlossen hatte, kehrte sie ins Nachbarzimmer zurück, dessen Tür sie ebenfalls hinter sich zuzog. Von den Lichtern ließ sie nur eine kleine Lampe brennen. Wenn er weinte, sollte er das in aller Stille tun können, ohne daß andere etwas davon bemerkten.
4
Robert fand die ganze Nacht keine Ruhe. Hester entging das nicht, doch sie wußte, daß sie ihm nicht helfen konnte. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen, ihn zu stören.
Als sie am Morgen nachsehen ging, schlief er. Sein Gesicht war leichenblaß. Er sah so jung aus und unendlich erschöpft. Er war etwas über zwanzig, doch in seinen Zügen konnte sie nur allzuleicht das Kind erkennen, das unter der Isolation und den Schmerzen litt. Sie verzichtete darauf, ihn zu wecken. Das Frühstück war nicht so wichtig.
Auf dem Treppenabsatz wartete Dagmar auf sie. »Fehlt ihm auch nichts?« fragte sie besorgt. »Die Tür zu seinem Zimmer war in der Nacht zu. Ich wollte
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