Die russische Gräfin
nicht hineingehen.« Da sie errötete, wußte Hester sofort, daß sie nachgeschaut und ihn weinen gehört hatte. Was mußte diese Frau leiden! Es mußte unerträglich für sie sein, wenn sie nichts tun konnte, außer stark zu bleiben. Und ihrem Sohn zuliebe wollte sie sich nichts anmerken lassen.
Hester wußte nicht, was sie ihr sagen sollte. War es am Ende besser, wenn sie die Wahrheit nicht länger bemäntelte? Wollte sie das jetzt noch tun, müßte sie lügen.
»Ich glaube, er stellt sich der Tatsache, daß er vielleicht nie wieder wird laufen können«, erklärte sie zögernd.
Dagmar setzte zu einer Antwort an, blieb jedoch stumm. An ihren Augen erkannte Hester, daß ihr sehr wohl Worte in den Sinn kamen, aber keins, das hätte helfen können. Einen Moment noch blieb Dagmar vor ihr stehen, dann verlor sie die Fassung. Sie wandte sich abrupt ab, rannte die Treppe hinunter und rettete sich ins Frühstückszimmer, wo sie allein sein konnte.
Hester kehrte in ihr Zimmer zurück. Ihr war unwohl.
Am späten Morgen wachte Robert mit rasenden Kopfschmerzen und trockenem Mund auf. Hester half ihm vom Bett auf den Stuhl. Im Krankenhaus von Skutari hatte sie gelernt, wie man Leute hob, die nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen konnten. Und einige davon waren größer und schwerer als Robert gewesen. Sie gab ihm eine Schüssel mit Wasser, damit er sich waschen und rasieren konnte, während sie Bett und Kissen ordentlich ausschüttelte und frisch bezog. Sie war gerade dabei, die Tagesdecke glattzustreichen, als Dagmar anklopfte und eintrat.
Robert sah immer noch mitgenommen aus, hatte sich aber wieder gefaßt. Als seine Mutter ihm helfen wollte, sich ins Bett zu legen, wehrte er ab, doch natürlich schaffte er es ohne Hesters Hilfe nicht.
Dagmar räusperte sich. »Wenn Miss Stanhope dich gestern verärgert hat, werde ich sie in einem höflichen Dankesbrief bitten, auf weitere Besuche zu verzichten. Das läßt sich alles arrangieren, ohne daß du belästigt wirst.«
»Sie wird wahrscheinlich sowieso nicht mehr kommen«, seufzte Robert. »Ich war sehr unhöflich zu ihr.«
»Es war bestimmt nicht deine Schuld…«, fing Dagmar an.
»Doch!« fuhr er ihr über den Mund. »Du brauchst mich nicht zu verteidigen, als ob ich ein Kind, ein Idiot oder nicht für mein Tun verantwortlich wäre. Ich habe den Gebrauch meiner Beine, aber nicht den Verstand verloren!«
Dagmar schnappte nach Luft. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Robert sofort. »Aber laß mich jetzt besser allein. Ich kann anscheinend zu niemandem mehr freundlich sein, außer zu Miss Latterly. Zumindest wird sie dafür bezahlt, daß sie mich pflegt, und ist Leute wie mich gewöhnt, die so widerspenstig reagieren, obwohl sie eigentlich allen Grund zu Dankbarkeit hätten.«
»Soll das heißen, daß du mich los sein willst?« Dagmar rang um Fassung, doch ihr stand ins Gesicht geschrieben, wie verletzt sie war.
»Nein, natürlich nicht! Oder doch! Ja! Es ist abscheulich, wenn ich dir weh tue! Und ich finde mich abscheulich!« Er drehte sich weg.
Hester konnte sich nicht zum Eingreifen durchringen. Vielleicht mußte endlich gesagt werden, was sonst schwelen und alle genauso verletzen würde, weil sie es ja wußten. Oder blieben diese Worte doch besser ungesagt? Dann müßte sie niemand mit einer Entschuldigung zurücknehmen. Und Zweifel, ob sie vergeben worden waren oder nicht, gäbe es auch nicht.
»Und wenn ich Miss Stanhope einfach so schreibe…«, begann Dagmar zögernd.
Robert drehte sich wieder zu ihr um. »Nein! Bitte laß das. Ich … ich möchte ihr selbst schreiben. Ich will mich entschuldigen. Das ist meine Pflicht.« Er biß sich auf die Lippe. »Nimm mir nicht alles ab, Mama. Laß mir meine Würde. Ich kann zumindest meine Entschuldigung selbst schreiben.«
»Ja…« Sie schluckte. »Ja, natürlich. Willst du sie bitten, wiederzukommen oder ihre Besuche bleiben zu lassen?«
»Ich werde sie bitten, wiederzukommen. Sie wollte mir von Sir Galahad und der Suche nach dem heiligen Gral vorlesen. Er hat ihn gefunden, wußtest du das?«
»Ach, wirklich?« Obwohl ihr Tränen über die Wangen strömten, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Ich… ich bringe dir Papier und ein Brett. Glaubst du, du kannst im Bett mit Tinte schreiben?«
Ein verzerrtes Lächeln flackerte über seine Lippen. »Das sollte ich wohl schleunigst lernen, oder?«
Wie fast jeden Tag, stattete der Arzt am Nachmittag seinen Besuch ab. Er war
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