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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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war sie die einzige, die nie in den Garten ging. Selbst in der Nacht verließ sie ihn nicht.«
    »Hat ihr etwa jemand geholfen?« Noch während sie fragte, wußte Hester bereits, daß Gisela ein solches Geheimnis bestimmt keinem Menschen anvertraut hätte. Niemand hätte das getan.
    Monk sparte sich eine Antwort.
    »Wenn er überhaupt ermordet wurde, dann nicht von Gisela«, stellte sie leise fest. »Was wollen Sie jetzt unternehmen? Wie können wir Rathbone helfen?«
    »Ich weiß es nicht.« Monk wirkte unglücklich und wütend zugleich. »Vielleicht genügt es Zorah schon, wenn wir beweisen können, daß es Mord war. Es kann ja sein, daß sie Gisela nur deshalb angeklagt hat, weil sie wußte, daß ihr nichts anderes übrigbleiben würde, als vor Gericht zu ziehen. Vielleicht sah Zorah keinen anderen Weg, einen Prozeß und damit eine öffentliche Untersuchung zu erzwingen.«
    »Aber was ist mit Rathbone?« beharrte Hester. »Er hat sich auf ihre Verteidigung eingelassen. Was hilft es ihm, wenn wir jemand anderen als den Schuldigen überführen?«
    »Wahrscheinlich überhaupt nichts«, antwortete Monk verdrießlich und entfernte sich vom Kamin. »Aber mehr als die Wahrheit kann ich nicht herausfinden! Sie erwarten von mir doch bestimmt nicht, daß ich Beweismittel manipuliere und den Mord Gisela in die Schuhe schiebe, nur um Rathbone aus einer selbst verschuldeten Notlage zu helfen, weil eine russische Gräfin ihm mit ihren schockierenden Ansichten den Kopf verdreht hat.«
    Sie hätte ihm böse sein müssen, nicht nur wegen seiner abfälligen Bemerkung, sondern auch weil er bewußt Zorah ins Spiel gebracht hatte, um sie eifersüchtig zu machen, und ihm das auch noch gelungen war. Doch einmal wenigstens verstand sie ihn auf Anhieb richtig, und zumindest sein Motiv war schmeichelhaft. Sie lächelte. »Finden Sie die Wahrheit heraus«, sagte sie leichthin. »Rathbone wird sicher das Beste daraus machen, und sei es auch nur, indem er seine Mandantin zu einer Entschuldigung für eine irrige Annahme veranlaßt und so alle Beteiligten vor einem Gesichtsverlust bewahrt. Die Wahrheit mag schwer zu verkraften sein, doch Lügen sind letztlich schlimmer. Vielleicht wäre Schweigen das beste gewesen, aber dafür ist es jetzt zu spät.«
    »Schweigen?« fragte er mit einem bitteren Auflachen.
    »Zwischen zwei Frauen wie diesen? Und dabei kann ich noch nicht mal mit Gisela sprechen, weil sie niemanden empfängt.« Er trat auf sie zu. »Sagen Sie Rathbone, daß ich ihm aus Venedig schreibe…, falls es etwas zu sagen gibt.«
    »Selbstverständlich. Ich besuche Sie, wenn Sie wieder da sind.« Sie wollte ihn noch bitten, wirklich alles zu tun, was er konnte, doch als sie den Ausdruck in seinen Augen bemerkte, hielt sie es für klüger, zu schweigen. Er würde ihr fehlen, aber das würde sie ihm garantiert nicht sagen.

5
    Die Reise führte Monk zunächst nach Dover, von dort mit dem Schiff nach Calais und weiter nach Paris, wo er in einen luxuriös ausgestatteten Zug stieg, der ihn nach langer Fahrt in südöstlicher Richtung nach Venedig bringen sollte. Da Stephan von Emden zwei Tage vorher aufgebrochen war, reiste Monk allein. Allerdings wollte der Deutsche ihn bei seiner Ankunft abholen.
    Das Unternehmen war gleichermaßen faszinierend wie anstrengend, denn abgesehen von einer Fahrt nach Schottland hatte Monk noch nie eine längere Strecke zurückgelegt. Sollte er Großbritannien jemals vor seinem Unfall verlassen haben, so war das in einem unzugänglichen Teil seines Gedächtnisses versunken. Erinnerungsfetzen schwappten in ihm hoch, wenn ein Erlebnis ein Echo aus der Vergangenheit auslöste, doch waren das stets nur Fragmente, die eher für Verwirrung als für Klarheit sorgten. Meistens handelte es sich um nicht mehr als einen Eindruck, wenn er beispielsweise im Vorübergehen ein Gesicht registrierte. War damit eine starke Emotion verbunden? Er wußte es nicht, wenngleich er dabei manchmal Freude, viel öfter aber Bedauern oder Angst empfand. Warum schien gerade der Zugang zu Schmerzen so viel einfacher zu sein? Hatte das mit seinem früheren Leben oder seiner Natur zu tun? Oder hinterließ das Dunkle einen nachhaltigeren Eindruck?
    Während der Zug über das Land ratterte, grübelte Monk auch viel über den Fall nach, den er im Augenblick – möglicherweise vergeblich – verfolgte. Hesters Haltung wurmte ihn. Es paßte ihm nicht, daß sie Rathbone so gern mochte. Vorher hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet, aber

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