Die russische Gräfin
Meinung nach geschehen?« fragte Monk ohne Umschweife.
Der Himmel war inzwischen fast ganz dunkel. Nur gelegentlich spiegelten sich im Fenster der Lichtschein einer vorbeitreibenden Fackel und etwas matter deren Reflexion im Wasser. Die Luft roch nach Feuchtigkeit und Salz, und ständig war im Hintergrund das sanfte Murmeln der Wellen zu hören.
Stephan sah Monk fest in die Augen. »Ich glaube, es hing ein Mord in der Luft«, sagte er vorsichtig. »Es stand viel auf dem Spiel. Man kann sich tausenderlei Rechtfertigungen einreden, wenn es einem um das Vaterland geht.«
Ein Diener brachte ihnen gebackenen Fisch mit Gemüse. Mit einem Nicken nahm Monk eine großzügig bemessene Portion an.
»In solchen Fällen werden die normalen Werte wie Recht auf Leben gern hintangestellt«, fuhr Stephan fort. »Im Krieg ist es ja immer so. Man sagt sich:›Das ist für mein Land, für mein Volk. Dem Großen zuliebe entscheide ich mich für das kleinere Übel.‹« Er beobachtete Monk noch immer. »Seit Beginn der Geschichte haben Menschen immer wieder so gehandelt und sind je nach dem gekrönt oder gehängt worden. Und die Nachwelt nennt sie an einem Tag Helden, am nächsten Verräter. Der Erfolg ist der höchste Richter. Es bedarf schon besonderer Menschen, die sich ihre eigenen Maßstäbe setzen.«
Monk staunte. Er hatte Stephan solch tiefe Einsichten in die Motive derer, die er nach außen wie flüchtige Freunde behandelte, nicht zugetraut. Sein Blick war weitaus schärfer, als er angenommen hatte. Wieder einmal hatte er ein voreiliges Urteil gefällt.
»Dann sollte ich noch sehr viel mehr in Erfahrung bringen«, entgegnete er. »Aber ein Mord aus politischen Gründen hilft uns in Zorah Rostovas Fall nicht weiter. Oder ist ihr Motiv hintergründig doch politisch?«
Stephan setzte schon zu einer Antwort an, überlegte es sich aber anders. Mit einem leisen Lachen spießte er ein Stück Fisch auf und schob es sich in den Mund. »Ich war mir vorhin schon ganz sicher, was ich sagen wollte, aber dann hat mich Ihre Frage nachdenklich gemacht«, erwiderte er. »Vielleicht habe ich mich getäuscht. Erst wollte ich verneinen. Zorah haßt Gisela aus rein persönlichen Gründen und glaubt, daß Eigennutz die Triebfeder ihres Handelns war: Stolz, Ehrgeiz, Luxus, der Drang, im Mittelpunkt zu stehen, Neid, Rache für verschmähte Liebe – alles menschliche Schwächen und nichts, das mit Vaterlandsliebe oder Staatsangelegenheiten zu tun hätte. Wie gesagt, vielleicht habe ich mich getäuscht. Jetzt glaube ich nicht mehr, daß ich Zorah so gut kenne, wie ich dachte.« Sein Gesicht nahm einen sehr ernsten Ausdruck an, seine Augen ruhten in denen von Monk. »Aber sie ist keine Heuchlerin. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Was immer ihre Gründe sind, nichts daran ist verlogen!«
Monk glaubte ihm. Ob Zorah wirklich benutzt worden war, vermochte er nicht zu beurteilen; auch hatte er keine Ahnung, von wem. Nun, vielleicht fand er es in Venedig heraus.
Am nächsten Tag zeigte Stephan Monk die Stadt. Gemütlich gondelten sie von einer Wasserstraße zur nächsten, bis sie sich schließlich auf dem Canale Grande wiederfanden. Stephan zeigte ihm all die Paläste, erzählte ihm ihre Geschichte und gelegentlich auch Details über ihre Bewohner. Vor dem Palazzo Cavalli veränderte sich sein Ton plötzlich. »Henri V. von Frankreich lebt hier«, sagte er mit einem spöttischen Grinsen.
Monk war verwirrt. »Henri V. von Frankreich?« Soviel er wußte, war dort vor einem halben Jahrhundert die Monarchie abgeschafft worden.
»Monsieur le Comte de Chambord«, lachte Stephan und stützte sich mit gespielter Lässigkeit auf den Ellenbogen. »Der Enkel von Charles X. Die Linie des französischen Königshauses ist noch nicht ausgestorben, eine Tatsache, die sehr viele Leute hier lieber übersehen. Seine Mutter, die Duchesse de Berry, hat einen bettelarmen italienischen Adeligen geheiratet und lebt in großem Stil im Palazzo Vendramin-Calergi. Sie hat ihn 1844 praktisch für ein Butterbrot gekauft – Gemälde, Möbel und was sonst noch dazugehört. Venedig war damals spottbillig. ’51 zahlte John Ruskin nur sechsundzwanzig Pfund jährlich für eine Wohnung hier am Canale Grande. Aber den britischen Konsul, Mr. James, kostet die Jahresmiete für eine Etage im Palazzo Foscolo einhundertsechzig Pfund. Ganz Venedig ist in der letzten Zeit schrecklich teuer geworden.«
Sie schaukelten sanft im Kielwasser einer größeren Barkasse.
Von einer geschlossenen
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