Die russische Gräfin
Moment zu!
Offenbar war ihm weder klar, was für hohe Wellen diese große öffentliche Romanze schlug, noch welche Träume all der Außenstehenden damit verbunden waren. In gewisser Hinsicht hatte er ein behütetes Leben geführt: Herkunft aus gutem Hause, hervorragende Ausbildung, exklusive Universität, Referendariat bei einem der angesehensten Anwälte und schließlich die Ernennung zum Barrister. Er kannte das Gesetz so gut wie nur wenige und hatte gewiß gesehen, zu welchen Verbrechen Leidenschaft und auch Verkommenheit führen konnten. Aber hatte er auch das normale Leben mit seinen Schwierigkeiten, seiner Komplexität und seinen scheinbaren Widersprüchen am eigenen Leib erfahren? Das glaubte sie eher nicht, und seine mangelnde Kenntnis machte ihr Angst.
»Sie werden viel über den politischen Hintergrund in Erfahrung bringen müssen«, sagte sie ernst.
»Danke.« Sarkasmus blitzte in seinen Augen auf. »Daran hatte ich auch schon gedacht.«
»Auf welcher Seite steht die Gräfin?« beharrte sie. »Ist sie für die Unabhängigkeit oder für die Vereinigung? Woher bezieht sie ihr Geld? Ist sie in jemanden verliebt?«
Sie sah seinem Gesicht an, daß er zumindest die letzte Frage noch nicht bedacht hatte. Einen kurzen Moment lang weiteten sich seine Augen vor Überraschung, dann hatte er sich wieder im Griff.
»Ich nehme an, eine gütliche Einigung ist ausgeschlossen«, sagte sie ohne Hoffnung. Rathbone hatte bestimmt alles versucht, um die Gräfin zum Einlenken zu bewegen.
»Richtig«, bestätigte der Anwalt düster. »Sie will es mit aller Macht auf ein Urteil ankommen lassen, egal was sie das kosten kann. Und ich habe sie gewarnt, daß sie viel riskiert.«
»Dann können Sie auch nicht mehr tun.« Sie versuchte zu lächeln. »Ich habe in einem geeigneten Moment mit Baron und Baronin Ollenheim darüber gesprochen. Sie hat eine sehr romantische Sichtweise; er ist pragmatischer, und ich hatte den Eindruck, daß er nicht viel von Gisela hält. Beide waren aber davon überzeugt, daß sie und Friedrich einander anbeteten und er zu keinem Zeitpunkt in Erwägung zog, ohne sie heimzukehren, selbst wenn sein Land vom Deutschen Reich geschluckt werden sollte.« Sie nippte an ihrem Wein und sah ihn über das Glas hinweg an. »Wenn Sie beweisen können, daß es Mord war, hat ihn meiner Meinung nach jemand anders begangen.«
»Ich bin mir bereits all der Verzweigungen bewußt.« Er sprach mit fester Stimme, fand aber trotz allem Bemühen nicht den optimistischen Ton. »Auch weiß ich, daß die Gräfin sich mit ihren Behauptungen äußerst unbeliebt machen wird. Keiner mag es, wenn seine Träume zerstört werden, aber manchmal ist das im Namen der Gerechtigkeit nötig.«
Es war eine tapfere Ansprache; doch allein schon die Tatsache, daß er sie überhaupt hielt, verriet seine Nervosität. Offenbar wollte er sich ihr anvertrauen, aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Hester hielt Vorsicht bei dieser Frau für angebracht, die Rathbone so sehr aus der gewohnten Bahn geworfen hatte. »Sie scheint eine außerordentlich mutige Frau zu sein«, stellte sie fest. »Hoffentlich gelingt es uns, genügend Beweismittel zu finden, die die Eröffnung des Prozesses rechtfertigen. Immerhin sind wir insofern verantwortlich, als es in England geschehen ist.«
»Sehr richtig!« stimmte er emphatisch zu. »Wir können doch nicht kampflos zulassen, daß unser Fall in den Bereich der Legende abrutscht. Vielleicht deckt Monk ja einige hilfreiche Umstände auf… Damit meine ich ganz einfache Fakten, wie zum Beispiel, wer die Möglichkeit hatte…«
»Womit, glaubt sie, wurde er getötet?« fragte Hester.
»Gift.«
»Ich verstehe. Jedermann glaubt, daß nur Frauen so etwas benutzen. Aber damit ist doch nicht bewiesen, daß es eine Frau war. Oder daß alle in bezug auf Vereinigung oder Unabhängigkeit wirklich so denken, wie sie reden.«
»Natürlich nicht«, räumte er ein. »Ich werde ja sehen, was Monk in Erfahrung gebracht hat und daraus neue Erkenntnisse gewinnen.« Erneut versuchte er, einen hoffnungsvollen Ton anzuschlagen.
Sie lächelte ihn an. »Machen Sie sich jetzt noch keine Sorgen. Sie sind ja erst am Anfang. Schließlich dachte bis zu den Äußerungen der Gräfin kein Mensch an Mord. Unter Umständen erinnert sich jetzt mancher an das eine oder andere vergessene Detail. Und vielleicht rühren sich auch noch die Anhänger der Unabhängigkeit, die ebenfalls die Wahrheit wissen wollen. Vielleicht sogar die Königin. Sie wird
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