Die russische Gräfin
der von der Notwendigkeit der Verfolgung dieses Falles überzeugt ist.«
»Und wer ist das?« Er war überrascht, denn ihm fiel niemand ein.
»Ich natürlich.«
»Sie können sich nicht selbst vertreten.«
»Es gibt keine Alternative, die ich akzeptieren könnte.« Sie sah ihn mit einem teils belustigten, teils ironischen Lächeln an, das aber nicht ihre Angst verdecken konnte.
»Dann werde ich Sie auch weiterhin vertreten, es sei denn, Sie wollen das nicht mehr.« Die eigenen Worte entsetzten ihn. Das war doch sträflicher Leichtsinn! Aber er konnte sie unmöglich ihrem Schicksal überlassen, selbst wenn sie es selbst verschuldet hatte.
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Danke, Sir Oliver.«
»Das war sehr unbesonnen von dir«, sagte Henry Rathbone ernst. Er stand gegen den Kaminsims gelehnt da und wirkte alles andere als glücklich. Die Terrassentür war längst geschlossen, und im Kamin prasselte ein munteres Feuer. Oliver hatte ihm soeben gestanden, daß er Zorah auch weiterhin verteidigen wollte, obwohl sie sich kategorisch weigerte, ihre Beschuldigung zurückzuziehen, und damit ihren gesellschaftlichen wie finanziellen Ruin praktisch besiegelte.
Oliver war nicht bereit, die Einzelheiten ihres Gesprächs zu wiederholen. Im nachhinein sah es so aus, als hätte er sich von Gefühlen, nicht aber von seinem Verstand leiten lassen – ein Fehler, den er bei anderen oft beklagte. »Ich kann sie doch nicht im Stich lassen. Sie hat sich in eine äußerst heikle Situation hineinmanövriert.«
»Und du dich mit ihr«, hielt ihm Henry vor. Er entfernte sich vom Kamin, vor dem es ihm zu heiß geworden war, und setzte sich auf seinen Sessel. Aus der Jackentasche fischte er eine Pfeife, klopfte sie über dem Feuer aus, reinigte den Kopf und stopfte ihn mit frischem Tabak. Nachdem er sie angezündet und einmal gepafft hatte, ging sie schon wieder aus. Er schien das jedoch nicht zu registrieren. »Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um zu retten, was noch zu retten ist.« Er sah Oliver mit festem Blick in die Augen. »Du hast wohl noch gar nicht begriffen, wieviel Staub dieser Fall aufgewirbelt hat.«
»Verleumdung?« fragte Oliver erstaunt. »Was soll daran so brisant sein? Und wenn Mord nachgewiesen werden kann, ist sie auch bis zu einem gewissen Grad rehabilitiert.« Er versank förmlich in seinem gewohnten Sessel auf der anderen Seite des Kamins. »Ich glaube, darauf muß ich meine Strategie aufbauen: Ich muß beweisen, daß ein Verbrechen begangen wurde. Im Schock und in der Empörung darüber, daß Friedrich ermordet wurde – wenn auch aus politischen Gründen –, wird man möglicherweise über Zorahs Anschuldigungen hinwegsehen.« Er schöpfte wieder frischen Mut. Hatte er vorhin noch das Gefühl gehabt, vor einer Mauer zu stehen, so sah er jetzt wenigstens einen möglichen Weg.
»Nein, an Verleumdung hatte ich nicht gedacht.« Henry nahm die Pfeife aus dem Mund, zündete sie aber nicht wieder an. Statt dessen schwenkte er sie zur Verstärkung seiner Worte rhythmisch hin und her. »Ich meinte vielmehr, daß jetzt auf einmal die Urteile der Leute über bestimmte Ereignisse und Personen und damit ein Teil ihres Weltbilds und ihres Selbstwertgefühls in Frage gestellt werden. Du überforderst die Leute, wenn du sie dazu zwingst, ihre alten Überzeugungen von heute auf morgen über Bord zu werfen. Sie können nicht so schnell umdenken und geben dir die Schuld für ihr Unbehagen, den Orientierungsverlust und die Verwirrung.«
»Ich glaube, du überschätzt das Ganze«, sagte Oliver mit fester Stimme. »Wenige Menschen sind so naiv, daß sie sich einbilden, eine Frau würde nie ihren Mann töten oder in der Königsfamilie eines Kleinstaats ginge es grundsätzlich anders zu als bei uns Normalsterblichen. Und den Geschworenen traue ich durchaus etwas mehr zu. Es werden per Definition Männer mit einer gewissen Welterfahrung sein.« Er lächelte. »Der Durchschnittsgeschworene ist ein Mann von Vermögen und Bildung, Vater. Er mag nach außen hin nüchtern auftreten, vielleicht auch ein Wichtigtuer sein, aber er hat wenig Illusionen über die Lebenswirklichkeit, über Leidenschaft, Gier und Gewalt.«
Henry seufzte. »Er ist aber auch ein Mann mit einem starken Interesse am Weiterbestehen der bisherigen Gesellschaftsordnung, Oliver. Er achtet die über ihm Stehenden und eifert ihnen nach. Ja, vielleicht will er auch mal einer von ihnen werden. Er mag es nicht, wenn das Bewährte, der
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