Die russische Gräfin
lagen mehrere aufgeschlagene Folianten. Auch in der Hand hielt er ein Buch. Anscheinend suchte er ganz bestimmte Gesetzeskommentare. Er selbst wirkte müde. Um seine Augen und seinen Mund hatten sich Falten gegraben, und seine blonden Haare waren leicht verwuschelt – eine Nachlässigkeit, die ihm höchst selten unterlief. Seine maßgeschneiderten Kleider saßen makellos wie eh und je, doch heute sah er gebeugt aus.
»Meine liebe Hester, wie entzückend, Sie wiederzusehen!« rief er voller aufrichtiger Freude, bei der ihr gleich ganz warm ums Herz wurde. Er klappte das Buch in seiner Hand zu und legte es zu den anderen. »Wie geht es Ihrem Patienten?«
»Sein Gesundheitszustand hat sich gebessert«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Aber ich fürchte, er wird nicht mehr laufen können. Was macht Ihr Fall?«
Er sah sie bestürzt an. »Er wird nicht mehr laufen können? Dann hat er sich ja nur teilweise erholt.«
»Davon müssen wir leider ausgehen. Aber lassen wir dieses Thema! Wir können ihm nicht helfen. Wie läuft Ihr Fall? Haben Sie Neuigkeiten aus Venedig? Hat Monk etwas Nützliches in Erfahrung gebracht?«
»Wenn er tatsächlich erfolgreich war, hat er es bisher für sich behalten.« Er deutete auf den Besucherstuhl, setzte sich auf den Schreibtisch und ließ die Beine herabbaumeln. Seine Unruhe war offenbar so groß, daß er sich nicht einmal ordentlich hinsetzen wollte.
»Aber er hat geschrieben?« drängte sie.
»Dreimal, aber nichts davon ließe sich vor Gericht verwerten. Jetzt setzt er seine Recherchen in Felzburg fort.«
Hester war nicht nur über das Ausbleiben hilfreicher Nachrichten beunruhigt, sondern auch über seinen nervösen Blick, seine fahrigen Bewegungen. Ständig mußte er mit einem Stoß Papiere spielen. Es war doch sonst nicht seine Art, ohne Sinn und Zweck an etwas herumzufummeln. Wahrscheinlich war er sich dessen nicht einmal bewußt. Unvermittelt bekam sie eine entsetzliche Wut auf Monk. Warum hatte er denn nichts Hilfreiches herausgefunden? Warum war er jetzt nicht da, um ihre Sorgen und das immer bedrückender werdende Gefühl von Hilflosigkeit mit ihnen zu teilen? Aber mit Panik war auch niemandem gedient. Sie mußte einen kühlen Kopf bewahren und logisch denken.
»Glauben Sie, daß Gräfin Rostovas Anklage aufrichtig gemeint ist?« fragte sie.
Er zögerte nur einen kurzen Moment. »Ja.«
»Könnte es denn zutreffen, daß Gisela ihren Mann ermordet hat?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist die einzige Person, die keine Gelegenheit dazu hatte. Sie ließ ihn nach dem Unfall keinen Augenblick allein.«
»Keinen Augenblick?« fragte Hester überrascht.
»Anscheinend, ja. Sie selbst übernahm die Pflege. Ich könnte mir vorstellen, daß man einen schwer kranken Patienten nicht aus den Augen läßt.«
»So schlecht, wie es ihm ging, hätte ich jemanden an seinem Bett wachen lassen, wenn ich schlief«, erwiderte sie. »Und ich wäre auch in die Küche gegangen, um sein Essen selbst zu kochen und bestimmte schmerzlindernde Mittel zuzubereiten. Man kann auf die verschiedensten Weisen Abhilfe schaffen, wenn der Patient bei Bewußtsein ist.«
Er sah sie zweifelnd an.
»Mädesüß zum Beispiel«, erklärte sie. »Feuchte Umschläge damit sind ein wunderbares Mittel gegen Schmerzen und Schwellungen. Zimt und Ingwer helfen gegen Kopfschmerzen. Bäder mit Schlüsselblumenextrakt reinigen die Haut. Kamillentee ist gut für die Verdauung und einen ruhigen Schlaf. Und ein bißchen Eisenkrauttee gegen Nervosität hätte mit Sicherheit auch sie gut gebrauchen können.« Sie sah ihm mit einem breiten Lächeln ins Gesicht. »Und gegen Infektionen, die nach einem schweren Unfall immer drohen, gibt es natürlich den ›Vierdiebeessig‹.«
Ein Lächeln flackerte über seine Lippen. »Da muß ich fragen. Was ist Vierdiebeessig?«
»Vier kerngesunde Diebe wurden einmal gefangen, als überall die Pest wütete«, antwortete sie. »Man bot ihnen die Freiheit an, wenn sie verrieten, womit sie sich die Pest vom Leibe gehalten hatten.«
»Mit Essig etwa?« fragte er perplex.
»Knoblauch, Lavendel, Rosmarin, Salbei, Minze, Kreuzkraut und Gartenraute. Das muß in einem ganz bestimmten Verhältnis gemischt und dann in Mostessig eingelegt werden. Ein paar Tropfen verdünnt mit Wasser genügen.«
»Danke«, sagte er ernst. »Aber nach Monks Information hat Gisela das Zimmer die ganze Zeit nicht einmal verlassen. Was immer sie brauchte, kam aus der Küche, oder der Arzt brachte es mit. Und
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