Die russische Gräfin
Rahmen der Ordnung, in dem er sich bewegt, in Frage gestellt wird. Schließlich verdankt er ihm seine Position und seinen Wert, kurz, alles, was ihm den Respekt der unter ihm Stehenden garantiert.«
»Darum wird er etwas gegen Mord haben!« argumentierte Oliver. »Insbesondere gegen den Mord an einem Prinzen. Er wird verlangen, daß er aufgeklärt und gesühnt wird.«
Henry zündete zerstreut seine Pfeife wieder an. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Sorgenfalten. »Er wird keine Anwälte mögen, die Leute verteidigen, die solche Vorwürfe gegen eine große romantische Heldin erheben«, verbesserte er seinen Sohn.
»Und er wird Frauen wie Zorah Rostova nicht mögen, die den Rahmen sprengen, weil sie nicht heiraten, weil sie allein in alle möglichen exotischen Länder reisen, sich unangemessen kleiden, und weil sie wie wir Männer und nicht wie eine Dame reiten und Zigarren rauchen.«
Oliver starrte ihn verblüfft an. »Woher weißt du das alles?«
»Weil die Leute schon darüber reden!« Henry beugte sich vor, und wieder ging die Pfeife aus. »Menschenskind, merkst du denn nicht, daß sich der Tratsch wie ein Lauffeuer in ganz London verbreitet? Seit über zehn Jahren glauben die Leute an die Liebesgeschichte von Friedrich und Gisela. Wer läßt sich da schon gerne sagen, er hätte sich getäuscht? Da stempeln sie lieber den zum Bösewicht, der ihnen so etwas einreden will.«
Oliver spürte geradezu, wie sein Mut sank.
»Angriffe gegen Königsfamilien sind ein zweischneidiges Schwert«, belehrte ihn Henry. »Ich weiß, daß viele das versuchen, vor allem in Zeitungen und Pamphleten, aber die wenigsten davon haben sich bei den Leuten beliebt gemacht, auf die es dir ankommt. Ihre Majestät hat jüngst deine Verdienste um die Justiz gewürdigt. Du gehörst jetzt dem Adel an, bist Kronanwalt, aber doch kein Agitator.«
»Eben deswegen darf ich nicht zulassen, daß ein Mord nicht untersucht wird!« stieß Oliver trotzig hervor. »Ich bin der Wahrheit verpflichtet und habe nicht die Aufgabe, mich bei den Leuten beliebt zu machen.« Allerdings war ihm klar, daß er sich in eine Lage begeben hatte, die unmöglich ohne Würdeverlust sich auflösen ließe. Und sein Vater machte alles nur noch schlimmer. Er brauchte nur sein ernstes Gesicht zu sehen, um zu begreifen, daß er verzweifelt einen Ausweg für ihn suchte, ohne einen zu finden.
Oliver seufzte. Sein Zorn verrauchte. Zurück blieb Angst.
»Monk fährt jetzt nach Felzburg. Er hält einen Mord aus politischen Gründen für das Wahrscheinlichste. Seiner Meinung nach könnte ihn Klaus von Seidlitz begangen haben, um zu verhindern, daß Friedrich als Anführer der Vereinigungsgegner zurückkehrte, was leicht zu einem Krieg hätte führen können.«
»Dann wollen wir hoffen, daß er Beweise mitbringt«, brummte Henry. »Und daß Zorah sich zu einer Entschuldigung durchringt und du die Geschworenen milde stimmen kannst.«
Oliver blieb stumm. Das Feuer warf einen Funkenregen und fiel dann in sich zusammen. Er merkte, daß ihn fror.
Hester glaubte nicht mehr daran, daß Robert Ollenheim noch einmal würde laufen können. Der Arzt hatte mit seinen Eltern nicht darüber geredet, aber er hatte Hester auch nicht widersprochen, als sie in einem der wenigen Augenblicke mit ihm allein ihre Befürchtungen geäußert hatte.
Für eine Weile wollte sie dem Haus entkommen und ihre Gedanken sammeln, um gewappnet zu sein, wenn die Eltern die Wahrheit schließlich erfuhren. Sie wußte, daß es ein schwerer Schlag für sie sein würde, und spürte die eigene Machtlosigkeit. All die Worte des Trostes, die ihr einfielen, kamen ihr herablassend vor. Nun, letztlich konnte sie den Schmerz ja auch nicht mit ihnen teilen. Was kann man einer Frau schon sagen , deren Sohn nie wieder stehen, gehen oder rennen wird, nie wieder reiten, ja, nicht einmal ohne Hilfe sein Zimmer verlassen wird? Und was kann man einem Mann sagen, dessen Sohn nie in seine Fußstapfen treten, nie unabhängig sein, nie eigene Kinder haben wird, die den Fortbestand der Familie sichern?
Sie bat um ein paar freie Stunden, um eine persönliche Angelegenheit zu regeln, die ihr sofort gewährt wurden. Daraufhin fuhr sie als erstes mit einem Hansom in die Vere Street und fragte Simms, ob es möglich sei, sie für ein paar Minuten bei Sir Oliver anzumelden.
Sie brauchte nicht lange zu warten. Binnen zwanzig Minuten wurde sie in sein Büro geführt. Rathbone stand bereits in der Mitte des Raums. Auf seinem Schreibtisch
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