Die russische Herzogin
Zarenhof wird uns mit offenen Armen empfangen, wir werden schöne Feste besuchen, und –«
»Hör auf, das sind doch haltlose Träume«, unterbrach Wera ihre Adoptivmutter und hätte vor Verzweiflung fast losgeheult. Was war nur in Olly gefahren? So weltfremd war sie doch sonst nicht.
»Wem willst du etwas vormachen? Die wenigen Freunde, die ich in meiner Kindheit hatte, haben mich längst vergessen. Und wenn du denkst, du selbst würdest mit offenen Armen empfangen, täuschst du dich mit Sicherheit. In St. Petersburg kümmern sich die Menschen zuallererst um sich selbst. Schau dir doch nur meine Eltern an: Sie haben so viel mit sich und ihrem Leben zu tun – glaubst du, die freuen sich, wenn sie sich fortan auch noch um uns kümmern müssen? Und dasselbe gilt für Onkel Sascha und Tante Cerise. Willst du der armen Cerise deine Not klagen, während sich im Zimmer nebenan Sascha mit seiner Geliebten vergnügt?«
»Wera! Wie kannst du so reden!«
»Ach, ziemt sich die Wahrheit etwa nicht?« Wera lachte bitter. »Dass der Zar seine Geliebte im Winterpalast wohnen lässt, weiß doch jeder. Das ist jetzt aber völlig gleichgültig. Was ich dir damit sagen will: In St. Petersburg wartet niemand auf uns, die sind alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Mit zusammengekniffenen Lippen schaute Olly Wera an. Zum ersten Mal, seit Wera das Zimmer betreten hatte, zeigte sich in Ollys verbissener Miene so etwas wie Unsicherheit.
»Vielleicht wäre solch ein großer Umzug vor zehn, zwanzig Jahren einfacher zu bewerkstelligen gewesen«, sagte nun auch Evelyn, wenn auch äußerst zaghaft. »Aber bedenken Sie, liebe Königin, Sie sind nicht mehr die Jüngste …«
Wera nickte. Ihr war zwar nicht klar, was das Alter in diesem Zusammenhang für eine Rolle spielte, aber solange man Olly damitvon ihren Plänen abhalten konnte, war ihr jedes Argument recht. Zur Sicherheit setzte sie noch hinzu: »Und dann so kurz nach dem Krieg … Im schlimmsten Falle würdest du mit deinem Umzug große politische Unsicherheiten auslösen, die Menschen würden sich fragen, ob neben deiner Ehe auch das Verhältnis zwischen Russland und Württemberg zerrüttet ist …«
Einen endlosen Moment lang sagte keiner etwas, dann schluchzte Olly auf.
»Aber … ich kann so nicht mehr weiterleben! Ich will es nicht, meine Kraft ist zu Ende, warum versteht ihr das denn nicht?«
Betreten schaute Wera die Königin an. Vor lauter Schreck hatte sie nur darüber nachgedacht, was Ollys Entscheidung für sie bedeuten würde, so dass sie darüber das Seelenleid der Königin aus den Augen verloren hatte. Was war sie nur für ein selbstsüchtiger Mensch!
»Warum habt ihr euch denn überhaupt gestritten?«, fragte sie mit belegter Stimme.
Olly winkte ab. »Das ist doch völlig egal. Ein Wort ergab das andere.« Ein tiefes Seufzen folgte, Ollys Blick schweifte in die Ferne. »Das, was heute gesagt wurde, hing schon sehr lange in der Luft. Nur wollte ich es nicht wahrhaben. Ich habe immer geglaubt, gehofft und gebetet, dass sich meine Ehe mit gutem Willen retten ließe. Solange ich mich anstrengte, alles richtig zu machen … Stattdessen habe ich wohl alles falsch gemacht.«
Wera rutschte unangenehm berührt auf ihrem Stuhl hin und her. Dass Olly so offen über ihre Ehe sprach, erschreckte sie zutiefst, denn es zeigte, wie ernst es der Königin war. Dass die Ehe zwischen ihren Zieheltern nicht sonderlich glücklich verlief, war Wera natürlich nicht entgangen. Doch sie hatte es vorgezogen, sich nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen.
»Ich mag nicht mehr reden, ich bin so müde, völlig ausgebrannt!« Sie stand auf, ging zum Bett, schob mit der rechten Hand einen Koffer zur Seite. Dann ließ sie sich auf ihrem Bett nieder und schloss die Augen.
»Warum erzählst du mir nicht lieber, wie der Ausflug mit Eugen war?Vielleicht bekomme ich am heutigen Tag doch noch etwas Nettes zu hören …«
Erneut war Wera fassungslos. Da tat Olly eine solche Entscheidung kund und schwenkte dann einfach auf ein anderes Thema um?
»Bevor du auch nur ein Wort von mir hörst, musst du mir versprechen, dass du deine Idee noch einmal überdenkst«, sagte sie und hielt unwillkürlich den Atem an.
»Ich finde auch, dass Ihre Hoheit wenigstens eine Nacht über all das schlafen sollte«, beeilte sich Evelyn zu sagen.
Olly nickte seufzend.
Ein wenig beruhigter begann Wera von ihrem Ausflug zu erzählen. Vergessen waren die halbgepackten Koffer. Vergessen auch
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