Die russische Herzogin
zu haben. Wenigstens etwas.
Plötzlich blieb die junge Herzogin stehen.
»Der See. Erinnerst du dich? Hierher bist du mit mir als Kind einmal gegangen.« Ein müdes Lächeln huschte über Weras Gesicht.
»Und ob ich mich erinnere«, antwortete Evelyn. »Du bist im Anschluss an unseren Ausflug noch einmal hergekommen, um heimlich Schlittschuh zu laufen. Und dann bist du im dünnen Eis eingebrochen und hast eine Lungenentzündung bekommen. Wir alle waren in größter Sorge um dich.«
»Ich war so unglücklich damals«, murmelte Wera. »Mir hätte es nichts ausgemacht zu sterben. Manchmal ist der Tod eine Erlösung …« Schon begannen Weras Augen wieder verdächtig zu glänzen.
»Und?«, fragte Evelyn brüsk.
»Wasund?«
»Hat sich das Weiterleben damals gelohnt?«
»Als ob sich der Mensch das aussuchen könnte«, erwiderte Wera bitter, während sie sich mit dem Handrücken über die Augen wischte.
»Damit ist meine Frage nicht beantwortet. Hat sich das Weiterleben damals gelohnt?«
»Was soll das?«, fragte Wera verwirrt. »Ja … Natürlich hat sich das Weiterleben gelohnt. Sonst hätte ich Eugen nicht kennengelernt. Wir hätten nie geheiratet. Wir –« Sie wandte sich kopfschüttelnd ab.
»Ihr hättet euren Sohn nicht bekommen.« Sanft beendete Evelyn Weras Satz. »Nicht weinen, bitte«, sagte sie, als Weras Schultern heftig zu zucken begannen. Sie nahm die junge Herzogin in den Arm, zeigte in den heiligen Winterhimmel. »Schau mal, siehst du den funkelnden Stern direkt über dem See? Dieser Stern ist nun Klein-Egis Zuhause. Und er ist ein kleiner Engel, der schönste und liebste von allen.«
Die Augen auf den blinkenden Stern gerichtet, atmete Wera zaghaft durch.
Voller Hoffnung, die richtigen Worte des Trostes gefunden zu haben, fuhr Evelyn fort: » Die Besten holt der liebe Gott zuerst, so lautet eine alte Redensart der Württemberger. Wir Menschen mögen dies nicht immer verstehen, aber Eugens Tod war Gottes Wille.«
»Gottes Wille?«, sagte Wera scharf. »Hätte ich nicht darauf bestanden, Klein-Egi mitzunehmen … Oder wäre ich mit ihm daheim geblieben – in Stuttgart wäre ihm gewiss nichts zugestoßen!«
»Woher willst du das wissen? Frag Olly, wie viele unschuldige Kinder diesen Herbst in Stuttgart am Keuchhusten gestorben sind. Eine schreckliche Epidemie ist durchs Land gefegt, die Krankenhäuser waren völlig überfüllt, die Ärzte und Krankenschwestern mussten hilflos zusehen, wie eine kleine Seele nach der anderen dahingerafft wurde. Womöglich wäre auch Eugen daran erkrankt, wenn ihr hiergeblieben wärt. Glaub mir, Gottes Wille kann überall geschehen, in Stuttgart ebenso wie in Schlesien.«
»DasUnglück anderer Menschen soll mir ein Trost sein? Ach Evelyn …« Wera bedachte sie mit einem traurigen Blick.
Verzweifelt schaute Evelyn die junge Herzogin an. »Entschuldige, dass es mir so schwerfällt, die richtigen Worte zu finden. Aber was erwartest du von mir? Dass das alles spurlos an mir vorübergeht? Olly und du, Karl, Eugen und Klein-Egi – ihr seid meine Familie, die einzige, die ich habe. Da ist es doch normal, dass ich mit euch leide, dass auch ich verzweifelt bin und mir die Worte fehlen. Klein-Egi war für mich der Enkel, den ich nie bekommen werde. Wie du könnte ich endlos heulen und toben.« Bevor Evelyn etwas dagegen tun konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Dabei hatte sie doch eigentlich Wera trösten wollen! Mit zitternden Händen kramte sie in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch. Im nächsten Moment reichte Wera ihr ein nicht mehr ganz weißes verknittertes Tüchlein.
»Nicht weinen, bitte.«
Die beiden Frauen tauschten einen Blick und lächelten sich traurig an.
Evelyn schnäuzte sich, dann spazierten sie in einträchtigem Schweigen weiter durch den Park. Als Schloss Rosenstein in Sichtweite kam, sagte Evelyn: »Auch wenn du es jetzt nicht glauben magst: Der liebe Gott hat noch viele schöne Dinge für dich vorgesehen. Denk doch nur, wie gut er es schon jetzt mit dir meint: Du hast einen lieben Ehemann. Du hast eine Familie, die dich innig liebt und die dir in der Trauer beisteht. Und – du trägst neues Leben in dir. Ein Kind, das größte Geschenk von allen.«
Mit dem ureigenen Instinkt einer Mutter, die ihr Ungeborenes schützen möchte, legte Wera die rechte Hand auf ihren Bauch.
»Das größte Geschenk von allen«, wiederholte Evelyn inständig. »Gott beschenkt dich reich …«
Wera seufzte tief auf, und in diesem Aufseufzen
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