Die russische Herzogin
lag nicht nur Schwermut, sondern auch eine Art Erlösung. Ihr Gesicht, so lange angespannt, dass es schon verhärmte Züge trug, entkrampfte sich. Es war kein Lächeln, das sich auf ihren Lippen zeigte, aber eine Annäherung daran.
»EinEngel im Himmel. Und einer auf Erden. Wenn es Gottes Wille ist …«
*
Während Stuttgart und sein Umland von einem der schlimmsten Stürme aller Zeiten geschüttelt wurden, gellten durchs Stuttgarter Schloss verzweifelte Schmerzensschreie. Es war der 1 . März 1876 , und im für die Niederkunft hergerichteten Schlafgemach der Königin lag deren Adoptivtochter seit mehr als zwölf Stunden in den Wehen. Der Geruch nach nasser Wäsche, Schweiß und Blut stand in krassem Kontrast zu den eleganten Nussbaummöbeln und den schweren Seidenvorhängen, die sich durch den wütenden Orkanwind trotz geschlossener Fenster hin und her bewegten. Der Sturm zerrte an den Fensterläden, knickte Äste von Bäumen ab, schleuderte Dachschindeln durch die Luft und wirbelte alles fort, was nicht niet- und nagelfest war.
Verzweifelt schaute Olly immer wieder zu den zwei Hebammen, von denen es hieß, sie seien die besten im ganzen Land. Warum taten sie nichts, um Wera die Schmerzen zu erleichtern? Und warum ließ sich das Kind so viel Zeit? Weras Bauch, er war so schrecklich aufgetrieben. Wie ein riesiger Fremdkörper ragte er unter den weißen Leinentüchern in die Höhe.
»Es muss doch Mittel und Wege geben, um die Geburt endlich voranzubringen!«, zischte Olly der älteren Hebamme zu, als vor dem Fenster erneut ein lautes Scheppern ertönte. Wahrscheinlich hatte der Sturm die nächsten Schindeln vom Dach gerissen, inzwischen war der ganze Schlosshof übersät mit Ziegelsteinen und Dachpfannen.
»Das ist doch alles nicht normal!«
Die Hebamme nickte. »Gleich haben wir es geschafft«, sagte sie aufmunternd zu Wera und strich ihr dabei ein paar nasse Haare aus der Stirn.
Ein unwirsches Stöhnen war die einzige Antwort.
»Willst du einen Schluck Wasser?«, fragte Olly, die mit Sorge Weras rot angelaufenes Gesicht betrachtete.
Stattzu antworten, stieß Wera einen neuen Schrei aus, noch lauter und schriller als zuvor.
Händeringend und ohne ein weiteres Wort rannte Olly aus dem Raum. Und wenn sie es Wera tausendmal versprochen hatte, bei ihr zu bleiben – das war alles zu viel für sie.
Vor der Tür wurde sie sofort von Eugen und Evelyn bestürmt, die wissen wollten, was im Zimmer vor sich ging. Auch Karl und Wilhelm von Spitzemberg waren anwesend und sprangen bei ihrem Anblick vom Sofa auf, genau wie der eigens vom Ministerium der Familienangelegenheiten des Königlichen Hauses für diesen Tag abgestellte Herr, welcher die herzogliche Entbindung auf die Minute genau dokumentarisch festhalten sollte. Mit gezücktem Stift und Notizbuch schaute er Olly erwartungsvoll an.
Sie schüttelte nur den Kopf. Während sie sich von Evelyn eine Tasse Tee einschenken ließ, suchte sie nach Worten, um die quälende Situation im Entbindungszimmer zu beschreiben.
Noch während sie sprach, verdunkelte sich der Raum. Erschrockene Blicke gingen in Richtung der Fenster, hinter denen sich gigantische Wolkenberge auftürmten. Dumpfes Donnergrollen ertönte, als würde direkt neben ihnen jemand die Pauke schlagen. Karl rannte ans Fenster und riss es auf, um besser sehen zu können, welche Schäden die letzte Sturmattacke angerichtet hatte. Im selben Moment wurde die Tür zu Weras Zimmer geöffnet. Durch den entstandenen Luftzug fiel das Fenster zu und zersprang klirrend in tausend Teile. Doch niemand achtete darauf, denn alle Augen waren auf die jüngere der Hebammen gerichtet, die mit ernstem Gesicht und einem rosafarbenen schreienden Bündel im Arm im Türrahmen stand.
Olly presste beide Hände auf ihr Herz.
»Ein … Mädchen?«
Die Hebamme schüttelte den Kopf und schaute gleichzeitig über ihre Schulter, wo ihre Kollegin mit einem zweiten Bündel erschien.
»Nein, es sind zwei.«
*
Erschöpftund blass lag Wera im Bett, in jedem Arm eine ihrer Töchter.
Danke, lieber Gott, danke.
Eugen kauerte neben ihr auf der Bettkante, Olly und die anderen saßen auf Stühlen rings um das Wochenbett. Lediglich der Mann vom Ministerium hatte sich verabschiedet, um die unglaubliche Nachricht der herzoglichen Zwillingsgeburt in den offiziellen Unterlagen festzuhalten. Draußen hatte sich der Sturm gelegt oder zumindest vorübergehend an Heftigkeit abgenommen. Wera kam es so vor, als wäre die Natur ein Spiegelbild
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