Die russische Herzogin
Räume. Und das in ihrem Zustand! Was dieser Schlafmangel für das Ungeborene zu bedeuten hat, mag ich mir nicht vorstellen.«
Unwillkürlich schaute Evelyn auf Weras Bauch. Es war schon eine stattliche Wölbung zu sehen. »Kann man ihr denn keinen Schlaftrunk geben? Heiße Milch mit Honig, ein Cognac oder ein paar Tropfen Laudanum?«, fragte sie, während sie den Korb mit kleinen Weihnachtsgeschenken, die sie für Weras Personal besorgt hatte, auf der Anrichte abstellte.
Auch nach Weras Auszug aus dem Schloss war der freundschaftliche Kontakt zwischen Eve und ihr nicht abgebrochen. Wenn Evelyn es einrichten konnte, schaute sie mindestens einmal pro Woche nach ihren Besorgungen in der Stadt auf eine Tasse Kaffee bei Wera vorbei. So war es kein Wunder, dass sie mit dem kleinen Haushalt fast so gut vertraut war wie mit dem des Stuttgarter Hofes. Und wie am Stuttgarter Hof, so war sie auch hier Ansprechpartnerin für die Sorgen und Nöte der anderen.
Clothilde von Roeder lachte traurig auf. »Ich habe wirklich alles versucht, aber inzwischen weiß ich mir nicht mehr zu helfen. Wissen Sie, was ich glaube?«
Eve nickte.
»Solange sich die Herzogin die Schuld am Tod des Jungen gibt, kann ihr nichts und niemand helfen.«
Traurig schauten die beiden Frauen zu Wera hinüber, die vor sich hinstarrend auf dem Sofa saß. Margitta, die ihr wie so oft Gesellschaft leistete, ignorierte sie.
Arme Wera …
Seit Klein-Egis Tod waren zehn Wochen vergangen. Evelyn bezweifelte inzwischen, ob zehn Jahre ausreichen würden, um Wera ihren Verlust verkraften zu lassen. Ihre Trauer war allumfassend. Sie hatte nicht mehr den kleinsten Rest Lebensmut in sich, wie eine leblose, schlaffe Hülle erfüllte sie ihre wenigen täglichen Pflichten. Diemeiste Zeit saß sie nur am Fenster und starrte in die Weite, so wie jetzt. Nichts und niemand konnte zu ihr durchdringen.
Sie alle hatte die Nachricht vom Tod des kleinen Eugen wie ein Schlag getroffen. Olly und Karl waren untröstlich gewesen, Olly hatte nächtelang geweint. Doch als die Königin sah, wie Wera von ihrem Schmerz regelrecht aufgefressen wurde, stellte sie ihre eigene Trauer hintan. Karl tat es ihr gleich, für Wera wollten sie beide stark sein.
»Und Herzog Eugen?«, fragte Eve stirnrunzelnd. Wäre es nicht die Aufgabe des Ehemannes, seiner Frau weiterhin beizustehen, so, wie er es anfangs getan hatte?
»Er ist in der Kaserne. Ein dringender Dienst. Ausgerechnet am Heiligen Abend.« Clothilde zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich kann auch er den Gedanken nicht ertragen, dass dies Klein-Egis erstes Weihnachtsfest gewesen wäre.« Ein Taschentuch zückend, lief die Hofdame schluchzend aus dem Raum.
Mit schwerem Herzen ging Evelyn hinüber zum Sofa. Margitta machte eilig Platz für sie. Dass die junge Frau so regelmäßig vorbeischaute, rechnete Eve ihr hoch an. Nach einem Zehnstundentag in der Näherei musste Margitta schließlich auch noch ihren Haushalt und ihre kleine Tochter versorgen. Und seit vier Wochen zudem ihren Sohn Manuel, der gerade selig auf ihrem Arm schlief. Ob dieser Josef bei all den Pflichten eine große Hilfe war, bezweifelte Evelyn nach allem, was sie über ihn gehört hatte. Umso liebenswerter war es, dass Margitta es sich auch heute, am Heiligen Abend, nicht hatte nehmen lassen, der Freundin beizustehen.
»Schau mal, es schneit«, sagte die Näherin und tippte Wera vorsichtig an. »Du hast den Schnee doch immer geliebt. Wollen wir vor dem Essen einen Spaziergang machen?«
Anstatt zu antworten, wurde Wera von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt.
Bedrückt schaute Margitta zu Evelyn hinüber. Was habe ich nun schon wieder falsch gemacht?, fragten ihre müden Augen.
Evelyn zuckte mit den Schultern. Alles war falsch, was man in Weras Gegenwart sagte.
»Riechtihr es? Der Gänsebraten duftet schon herrlich. Soll ich das Essen auftragen lassen oder wollen wir noch ein bisschen warten? Ich habe auch Geschenke für deine Angestellten mitgebracht, magst du sie verteilen?«, fragte sie, unwillkürlich die Rolle der Gastgeberin übernehmend. Gänsebraten und Geschenke. Die einzigen Zugeständnisse an den vierundzwanzigsten Dezember.
Als Olly sie darum gebeten hatte, den deutschen Heiligen Abend bei Wera zu verbringen, hatte Evelyn Weras Köchin den Vorschlag mit dem Gänsebraten gemacht. Inzwischen bereute sie ihre eigenmächtige Entscheidung. Ein Butterbrot hätte es auch getan. Wahrscheinlich würde sowieso niemand einen Bissen
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