Die russische Herzogin
so seltsam? Es war doch nichts geschehen. Sollte er nicht beim Rudern sein? Das Wetter war viel zu schön, um den Tag in geschlossenen Räumen zu verbringen. Ein Mann wie er gehörte nach draußen. Ohne mit ihrem Singsang aufzuhören, schüttelte Wera die Hand ab. Sie war doch da. Sie würde bei Eugen wachen. Drei Tage und drei Nächte. Dann würde alles gut werden.
Wera sang weiter.
30. KAPITEL
Stuttgart, im November 1875
A uf dem Fußboden kauernd, atmete Wera tief den Geruch von Klein-Egis Schlafanzug ein. Wie gut er roch.
Trauer durchströmte sie wie ein Gift, es drang in jede Körperzelle ein und lähmte ihre Glieder. Das Gift spülte das letzte bisschen Kraft in ihr davon. Jeden Tag mehr, wie ein Flussufer, das von anhaltenden Regenfluten so lange aufgeweicht wurde, bis es den Halt verlor und fortschwemmte. Die Vorstellung, jemals wieder vom Boden des Kinderzimmers aufstehen zu müssen, war unmöglich.
Von draußen fielen blasse Sonnenstrahlen ins Zimmer und zeichneten unterschiedliche Muster auf den Fußboden.
Ein neuer Tag.
Und danach eine weitere Nacht, in der dunkle Schatten von Träumen sie hin und her werfen würden. Stunden, in denen sie sich schwarz fühlte vor lauter Einsamkeit.
»Hol mich auch!« Immer wieder flehte, betete, schrie sie den Gott an, an dessen Existenz sie nicht mehr glaubte. Er erhörte sie nicht. Stattdessen ließ er die Sonne scheinen. Allmorgendlich schien sie ihr ins Gesicht, höhnisch, gemein, bis Wera eines Tages die Vorhänge mit einem Stuhl so vor dem Fenster fixierte, dass nirgendwo mehr ein Lichtstrahl eindringen konnte. So war es gut, so sollte es bleiben.
Doch jeden Morgen kam Clothilde von Roeder, zog den Stuhl zur Seite, zog die Vorhänge zur Seite.
»Siekönnen sich nicht ewig verkriechen, das Leben geht weiter«, sagte sie dann und strich Wera mitleidvoll über den Kopf.
»Du trägst neues Leben in dir, dafür musst du stark sein«, sagten auch die andern: Olly, Evelyn, Karl und Eugen. Sie wollten, dass sie sich zusammennahm, dass sie regelmäßig aß und so tat, als wäre alles wieder gut. Sie wollten, dass sie Besucher empfing und höfliche Konversation mit ihrem Ehemann pflegte. Manchmal, wenn ihre wenige Kraft es zuließ, tat sie ihnen den Gefallen. Geradeso, als sei nichts gewesen.
»Habe ich es Ihnen nicht gesagt, das Leben geht weiter«, sagte ihre Hofdame dann und Erleichterung schwang in ihrer Stimme mit.
Eugen bemühte sich in solchen Momenten immer, besonders fröhlich zu wirken. Er wollte mit ihr reiten gehen. Und durch die Weinberge wandern. Das Gestüt in Hohenheim besuchen – Ausflüge, die sie in ihrem früheren Leben zu gern mit ihm gemacht hatte. Aber sie sah in seinen Augen den eigenen Kummer widergespiegelt. Und irgendwann fing sie an, ihm nicht mehr in die Augen zu sehen, noch mehr Schmerz hätte sie nicht ertragen.
Ihr Sohn war tot. In ihr war kein Leben mehr, auch wenn die Wölbung unter ihrem Kleid die Menschen das glauben machte.
Klein-Egi war gestorben. Und sie war schuld daran. Dass sie weiterhin auf dieser Erde ausharren musste, war die gerechte Strafe dafür. Buße tun schon in dieser Welt. Alles andere wäre Frevel gewesen, das spürte Wera mit jeder von Trauer vergifteter Pore.
Lieber Gott, so hole mich doch zu dir! Bitte. Ich flehe dich an, warum holst du mich nicht?
*
24 . Dezember 1875
Ach wozu?
Ach wozu? Ach wozu
Hat das Menschenherz
Niemals Ruh’ – niemals Ruh’
Und nur immer Schmerz?
Wozu lieb’? – wozu lieb’
Ich so inniglich?
Wozu trieb? – wozu trieb
Ach! Die Liebe mich? –
Ganz allein – ganz allein
Steh’ auf Erden ich!
Und ich wein’ … und ich wein’ …
Gar so bitterlich …
Ach verblüht! – ach verblüht
Ist mein’ Lieb’ gar schnell
Und verglüht! – und verglüht
Dieser Stern so hell!
Ach wie schwer! – ach wie schwer
Ist mein Erdenlos!
Nimm mich Herr – nimm mich Herr
Auf – in deinen Schoß!
Seufzend legte Evelyn das Blatt Papier zurück auf Weras Schreibtisch. Die tiefschwarze Tinte war an mehreren Stellen verwischt – Tränen waren auf die einzelnen Worte gefallen.
»Solch düstere Gedichte schreibt sie die ganze Zeit«, flüsterte Clothilde von Roeder ihr zu. »Hier, schauen Sie!« Unauffällig hob Weras Hofdame einen Stapel lose Blätter in die Höhe. Alle trugen WerasHandschrift, alle sahen gleichermaßen lädiert aus wie das erste Gedicht.
»Und immer nachts. Sie kann nicht schlafen, wandert stundenlang wie ein Gespenst durch die
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