Die russische Herzogin
Zarentochter, die einst an den Stuttgarter Hof gekommen war. Vor ihr hatte schon im Jahr 1814 Katharina Pawlowna diesen Schritt getan, als sie König Wilhelm I. heiratete. Seit dieser Zeit entwickelten sich die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bande zwischen beiden Ländern immer intensiver. Von Kronprinzessin Olga und ihrem Gatten Karl war bekannt, dass sie den russischen Lebensstil sehr schätzten. Auch aus diesem Grund waren Olgas Landsleute mehr denn je in der Landeshauptstadt willkommen. Helene hoffte, dass sich unter den »Stuttgarter Russen« viele unverheiratete Herren befanden.
Die Gouvernante gestattete sich einen ihrer seltenen Tagträume: … ein eleganter Herr aus dem Finanzsektor. Oder ein hoher Militär. Vielleicht war ihr Zukünftiger auch ein wohlhabender Geschäftsmann und örtlich unabhängig? Dann würde man sogar über einen Umzug in südlichere Gefilde nachdenken können. Venedig. Oder Triest. Für sie musste es nicht zwingend wieder St. Petersburg sein. Nicht, dass sie schlechte Erinnerungen an ihre Heimatstadt hatte, ganz im Gegenteil. Dort, in all den vergoldeten Palästen, hatte sie schließlich den Ruf erworben, der sie jetzt hierher nach Stuttgart brachte.
Helene Trupow galt als eine der besten Gouvernanten europaweit, durchgreifend, konsequent, streng bis in die Spitzen ihrer feldhasenbraunen Haare. Sie hatte den Kindern des Fürsten Scheremetew ebenso Zucht und Ordnung beigebracht wie dem Gonscharow-Nachwuchs. Hatte im Menschikow-Palast am Universitätskai ebenso gearbeitet wie im Stroganow-Palais am Newski-Prospekt. Nur in den Winterpalast hatte man sie bisher nicht gerufen. Kein einziger Romanow-Zögling war ihr anvertraut worden, was sie fast als Kränkung ihrer Berufsehre ansah. Doch schließlich hatte man ihren Wert auch in den allerhöchsten Kreisen erkannt.
Die Betreuung der russischen Großfürstin Wera würde der krönende Abschluss ihrer Karriere sein.
Bislang waren ungestüme junge Burschen ihre Schützlinge gewesen,zu deren Freizeitbeschäftigung gehörte, in Hinterhöfen kleine Feuer zu legen oder wertvolle Pferde zu stehlen, mit denen sie sich dann Wettrennen lieferten. Sie hatte jeden zur Räson gebracht. Helene wusste, dass man sie hinter ihrem Rücken »die Rangen-Gouvernante« nannte, und sie war stolz darauf.
Und nun Wera Konstantinowa. Eines der wenigen Mädchen, das in ihre Obhut gegeben wurde. Umso besser. Ein Kinderspiel. So würde ihr genügend Zeit bleiben, um sich in der russischen Gemeinde zu etablieren und sich unauffällig nach einem zukünftigen Ehemann umzusehen.
Ihr Blick fiel auf ihre Reisebegleiterin Mathilde Öchsele, die leise schnarchend in einer Ecke der Kutsche lehnte, wie so oft während ihrer langen Reise.
Helene Trupow lächelte spöttisch. Da sehnte sich die alte Kammerfrau nach nichts mehr als nach der Rückkehr in ihre alte Heimat – und nun verschlief sie den feierlichen Moment der Ankunft!
Eines stand für Helene fest: Nie und nimmer wollte sie arbeiten, bis sie grau und ausgelaugt war wie die Kammerfrau. Stuttgart sollte für sie das Sprungbrett in ein neues Leben werden. Von nun an wollte sie sich nicht mehr so plagen müssen, das war ihr fester Wille. Und sollte die kleine Wera dies wider Erwarten anders sehen – als Rangen-Gouvernante hatte sie genügend Mittel zur Hand, um ein Kind gefügig zu machen.
*
Aufgeregt hüpfte Wera von einem Bein aufs andere. Zur Feier des Tages hatte sie Eugen von Montenegro, der in ihrem linken Arm lag, einen dicken Pullover und darüber noch eine Weste angezogen. In Russland war es kalt. Sehr kalt. Womöglich würden sich die Eltern gar nicht lange aufhalten, sondern gleich zurückfahren wollen? Auch Wera trug unter ihrem Kleid ein wollenes Hemdchen. Ein paar Brote hatte sie in die Rocktasche gesteckt. Proviant für die lange Reise, zur Sicherheit. Zu gern hätte sie sich von Margitta verabschiedet, aber als sie auf dem Dachboden nach ihr suchte,war sie nicht da gewesen. Kurz hatte Wera mit dem Gedanken gespielt, zur Wäscherei zu gehen, wo Margittas Mutter arbeitete, aber die labyrinthartigen Gänge im Keller des Schlosses machten ihr Angst. Einmal, als sie dort unten umhergestreift war, hatte sie sich derart verlaufen, dass sie Ewigkeiten nicht mehr zurückgefunden hatte. Statt sich also persönlich von Margitta zu verabschieden, hatte sie auf dem Dachboden in der Fensternische ein Märchenbuch und drei Brezeln deponiert. Ein Abschiedsgeschenk für die einzige Freundin, die
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