Die russische Herzogin
ständig »einzumischen«, wie Karl es ihr vorwarf. Dabei gab es doch Dinge, in die man sich einfach einmischen musste !
Sollte sie etwa zusehen, wenn geistig kranke Menschen in kellerartige Verliese gesperrt wurden, nur weil es kein ordentliches Heim für sie gab? Sollte sie es hinnehmen, dass klugen jungen Menschen der Schulbesuch verweigert wurde, nur weil sie dem weiblichen Geschlecht angehörten? Oder weil es schlichtweg zu wenig Schulen gab? Und zu wenig Lehrer obendrein?
Es hatte in ihrem Leben eine Zeit gegeben, in der Karl die Dinge ähnlich sah wie sie. Gemeinsam hatten sie versucht, Gutes zu tun. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Karl … Wie sehr hatte er sich verändert. Oder war sie es, die eine andere geworden war?
Ihr Leben schien ihr immer mehr zu entgleiten, und je verzweifeltersie versuchte, alle Fäden in der Hand zu halten, desto weniger gelang es ihr – gleichgültig, ob es sich um ihre Ehe, um ihre Wohltätigkeiten oder um Wera handelte. Und heute Abend war sie auch noch wie eine ältliche Jungfer in zu eng geschnürtem Kleid bei Tisch in Ohnmacht gefallen! Dabei war sie eigentlich nicht der Typ, der schnell ohnmächtig wurde, ganz im Gegenteil, sie hatte solche Damen immer ein wenig belächelt.
Als sie versuchte, sich im Bett aufzusetzen, gaben ihre Arme nach. Kraftlos ließ sie sich wieder aufs Kissen sinken. Das Zucken an ihren Augen hatte inzwischen nachgelassen, war nur noch schwach wie der Flügelschlag eines winzigen Insekts. Ihr Mund war trocken, aber die Vorstellung, nach der Tasse Tee zu greifen, die auf ihrem Nachttisch stand, überforderte sie. Die kleine Kugeluhr, die Karl ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, zeigte ein Uhr nachts an. So spät schon. Und Karl war noch immer nicht zu Hause. Wo war er?
Nach dem heutigen Abend hatte es sich Wera bestimmt endgültig mit der Königin verscherzt, da konnte sie, Olly, sich in der nächsten Zeit Mühe geben, so viel sie wollte.
Olly schloss die Augen, als könnte sie so der bitteren Erkenntnis entfliehen, die sie am heutigen Abend gewonnen hatte: Sie war nicht fähig, Wera im Zaum zu halten. Und eine gute Ersatzmutter war sie auch nicht. Karl hatte recht gehabt, als er im Vorfeld ihre mütterlichen Fähigkeiten angezweifelt hatte. Wie sich nun herausstellte, reichte ihre Liebe nicht aus, um Wera Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Im Gegenteil, das Kind wurde von Tag zu Tag unbändiger und rastloser.
In ganz Russland war es keinem Arzt gelungen, herauszufinden, was mit dem Kind los war. »Geisteskrank« war das Urteil, das am Ende über Wera gefällt wurde. Olly weigerte sich nach wie vor, daran zu glauben. Wera hatte im Gegenteil einen zu wachen Geist, war von zu schneller Auffassungsgabe. Sie hörte, sah und fühlte mehr als andere Menschen in ihrem Umfeld. Wera war anders als die meisten Kinder. Und sie, Olly, hatte sich eingebildet, mit diesem »Anderssein« zurechtzukommen.
Aufdem Gang vor ihrem Schlafzimmer waren leise Schritte zu hören. Einen Moment lang gab sich Olly der Hoffnung hin, es könnte Karl sein, der nach ihr schauen kam. Doch die Schritte verflüchtigten sich.
Er wolle seine Mutter ins Schloss begleiten, hatte Karl gesagt. Doch wo war er nun? In einem Tanzlokal? Bei einer spiritistischen Sitzung? Inkognito, so wie er früher, in seiner Jugend, gern unterwegs gewesen war? War Wilhelm von Spitzemberg an seiner Seite, lachte und feierte mit ihm? Oder besuchte Karl eine heimliche Geliebte, so wie sein Vater es seit Jahr und Tag machte?
Sie konnte ihm nicht einmal verdenken, dass er vorhin davongelaufen war. Karl ging der Trubel um Wera auf die Nerven, immer öfter zog es ihn außer Haus. Dabei hatte sie, Olly, vielmehr gehofft, dass ein Kind – ihr Patenkind – ihre Beziehung stärken würde! Eine neue Gemeinsamkeit, etwas, worüber sie sich austauschen konnten, etwas, woran sie gemeinsam Spaß hatten. Spielstunden, Schlittenfahrten, Theaterbesuche mit einem hübsch gekleideten Mädchen an der Hand – die Erinnerung an die Pläne, die Karl und sie für Weras Ankunft geschmiedet hatten, war nur noch ein dumpfer Nachhall in Ollys Kopf. Du und deine bildschönen Träume, spöttelte eine giftige Stimme in ihrem Hinterkopf.
Das Mädchen wollte keine hübschen Kleider. Als Olly dennoch darauf bestand, dass die Schneiderin bei ihr Maß nahm, hatte sie sämtliche Stoffmuster, das Nadelkissen und andere Utensilien aus dem Besitz der Schneiderin vom Tisch gefegt.
Wera wollte auch nicht mit
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