Die russische Herzogin
sagen.
»Verzeihen Sie, Kronprinzessin, dass ich mich gleich nach meiner Ankunft einbringe, aber Sie wollen dem Kind doch nicht etwa seinen Willen lassen?«, kam es scharf von Helene Trupow.
Alle Köpfe drehten sich zu der Gouvernante um. Dass jemand der Kronprinzessin widersprach, geschah nur selten.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Wera ihre Tante.
»Oh, machen Sie sich keine Sorgen, Madame Trupow. Es ist mein Wille, dass Wera mich begleitet. Sie dürfen dann gern morgen mit Ihrer Arbeit beginnen«, sagte Olly und lächelte verkrampft.
Weraatmete aus. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte der mageren Ziege mit den runzligen Händen die Zunge herausgestreckt.
*
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte Wera und ließ die Füße baumeln. »Gehen wir jetzt arbeiten ?«
Missvergnügt betrachtete Olly die aufgeplatzte Naht an ihrem rechten Jackenärmel.
»Kind, würdest du deine Füße bitte bei dir behalten? Wenn du weiter gegen meinen Rock trittst, ruinierst du den auch noch. Wir besuchen ein Kinderheim, das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Ach ja. Stimmt. Und wann kommt Papa?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Olly abwesend. Ihre Gedanken waren noch immer bei der Ankunft der Petersburger Gouvernante. Einen schlechteren Start für Wera und Madame Trupow konnte sie sich wirklich nicht vorstellen. Sie seufzte. Hätte sie auf Evelyn und Karl hören und Wera im Vorfeld sagen sollen, dass man nicht etwa ihre Eltern erwartete?
Um ehrlich zu sein: Olly hatte im Stillen ebenfalls gehofft, dass außer den Bediensteten auch Kosty und Sanny aus der Kutsche steigen würden. Das wäre eine Überraschung gewesen! Aber statt selbst zu kommen, schickte Kosty lediglich seine Spione. Von wegen, »die beiden Damen sollen dich bei Weras Pflege entlasten«! Kosty mochte seine Tochter zwar nicht um sich haben, doch die Kontrolle über sie wollte er langfristig nicht aus der Hand geben. Wahrscheinlich würde die Trupow alles, was mit Wera zu tun hatte, haarklein nach St. Petersburg berichten. Ach, sie war so wütend auf ihren Bruder!
»Warum leben die Kinder in diesem Heim?«
Olly war froh darüber, dass Wera sie aus ihren Grübeleien riss.
»Weil ihre Eltern nicht in der Lage sind, sich um sie zu kümmern«, antwortete sie.
»Und warum kümmern sich die Eltern nicht um die Kinder?«
Warum, warum, warum! Wera mitzunehmen war keine gute Ideegewesen. Aber die selbstgerechte Art der Gouvernante, sich sogleich einzumischen, hatte sie derart erzürnt, dass sie gar nicht anders konnte.
»Sag schon, warum kümmern sich die Eltern nicht? Ist es wie bei Papa und Maman? Müssen die alle zuerst ihre älteren Töchter unter die Haube bringen?«
Unwillkürlich musste Olly lachen. »Du ziehst Schlüsse, auf die kein anderer Mensch kommen würde«, sagte sie und zog liebevoll an Weras Zopf, der ein wenig seltsam roch. Wera hasste das Haarewaschen, machte dabei einen solchen Aufstand, dass beim ersten Mal der halbe Hofstaat herbeigeeilt war, aus lauter Sorge, dem Kind sei etwas zugestoßen. Seitdem nahm man es nicht mehr so genau mit diesen Dingen. Olly schnupperte erneut und rümpfte die Nase. Irgendwie roch das Kind nach … Käse und Brot. Ein unhaltbarer Zustand! Aber würde die Kammerfrau mit Wera überhaupt zurechtkommen? Die alte Dame, die Kosty aus Tante Helenes Hofstaat übernommen und ihr, Olly, geschickt hatte, wirkte nicht mehr sehr rüstig. Bevor Weras nächstes »Warum« ertönte, sagte Olly: »Manche Kinder haben gar keine Eltern mehr. Oder nur eine Mutter, die –« Sie brach ab, als sie sah, wie sich Weras Miene veränderte. Ihre Lippen verloren von einem Moment zum anderen die Farbe, wurden fast durchscheinend weiß, und die Augen waren ängstlich aufgerissen.
»Was ist denn, was hast du auf einmal?« Stirnrunzelnd schaute Olly ihre Patentochter an.
»Anhalten … Du musst die Kutsche anhalten«, kam es stockend und so leise, dass Olly kaum etwas verstand.
»Warum das? Wir fahren doch erst seit ein paar Minuten«, sagte Olly.
Weras Finger krallten sich in ihren Arm.
»Da vorn … Ist das … eine Kirche?«
»Ja, also eher nein. Die alte Schlosskirche wird nicht mehr –« Olly kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Nicht vorbeifahren! Das ist viel zu gefährlich. In den Kirchen verstecken sich böse Männer, die Überfalle planen und Attentate! Diehaben Gewehre und andere Waffen. Damit haben sie auch Papa überfallen, damals in Warschau. Tante Olly, bitte lass anhalten!« Noch während
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