Die russische Herzogin
Warum nimmst du mich nicht einfach in den Arm?, wollte sie ihn fragen. Warum hast du mich nicht ein wenig mehr lieb? Liebe ist die beste Medizin,wohingegen Höflichkeit nur ein Trostpflaster ist. Stattdessen schwieg sie. Wie so oft.
»Was erwartest du von mir?«, fuhr nun auch Karl auf. »Dass ich amouröse Anwandlungen habe, hier, jetzt und heute, bei all dem Ärger?«
Wie er daherredete – als ob die Situation gerade eine große Ausnahme wäre! Als ob ansonsten stets eitel Sonnenschein zwischen ihnen herrschte. Wann waren sie das letzte Mal wie Mann und Frau miteinander umgegangen? Und nicht nur wie gleichgültige Gefährten?
»Du hast recht, ich bin wirklich müde«, sagte sie gepresst.
»Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir das Kind nach Russland zurückschickten.«
Olly blinzelte. Hatte er das wirklich gesagt?
»Schau mich nicht an, als wäre ich ein Bösewicht, du bist doch diejenige, die dem ganzen Trubel nicht gewachsen ist. Für mich hast du überhaupt keine Zeit mehr, oder kannst du dich daran erinnern, wann du mir und meinen Sorgen das letzte Mal dein Ohr geschenkt hast? Aber kaum gibt Wera einen Ton von sich, springst du auf, als gäbe es nichts Wichtigeres. Und wenn es nicht Wera ist, um die du dich kümmerst, dann sind es irgendwelche Arme und Irre. Ich frage mich wirklich, ob ich dir überhaupt noch etwas bedeute.«
»Bist du etwa eifersüchtig? Auf ein Kind?« Unwillkürlich musste Olly lachen. »Ach Karl …«
Er schaute sie feindselig an. »Ich kann es nur nicht leiden, dass du dich ständig um tausend Dinge kümmerst und mich dabei links liegenlässt.«
»Wer läuft denn die ganze Zeit aus dem Haus? Du merkst gar nicht, wie einsam ich neben dir bin. Im Grunde hast du dich schon vor langer Zeit, lange vor Weras Ankunft, von mir abgewandt.«
»Das stimmt nicht«, sagte er lahm.
»Ach nein? Und was meine Beschäftigungen angeht: Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass das Leben, das ich führe, ein ganz normales, gottgefälliges Leben ist? Mit Aufgaben und Pflichten,die ich mit Freude zu erfüllen versuche? Während du immer öfter nur in den Tag hineinlebst. Für nichts zeigst du mehr Interesse, nichts mehr ist dir wichtig, jedenfalls nichts, wovon ich weiß. Eigentlich hätte ich gedacht, dass du mich mit Wera unterstützt, dass du mir hilfst, aus ihr ein gesundes, glückliches Kind zu machen. Aber scheinbar habe ich mich auch hier in dir getäuscht.« Abrupt drehte sie sich um und starrte auf die Wand.
Karl zögerte noch einen Moment lang, dann ging er ohne Abschiedsgruß aus dem Raum.
»Davonlaufen, das kannst du!«, schrie Olly ihm nach. Wütend und enttäuscht zugleich ergriff sie die kleine Kugeluhr vom Nachttisch und schleuderte sie quer durch den Raum. Sie zerschellte an der Tür. Ein leises metallisches Klirren ertönte, Glassplitter und Metallteile regneten auf den Teppich.
Voller Genugtuung schaute Olly auf ihr Werk. Gut so! Sie hatte dieses lieblos ausgesuchte Geschenk noch nie leiden können.
5. KAPITEL
G espannt blickte Helene Trupow aus dem Fenster der Kutsche. Stuttgart, ihr neuer Wirkungskreis. Ein Wirrwarr von Straßen und Häusern in einem tristen Talkessel. Die Gouvernante verbot sich jeden Vergleich zur Pracht von St. Petersburg. Wirkte nicht jede Stadt an einem verregneten Januartag trist?
Zugegeben, Baden-Baden wäre ihr lieber gewesen. Es hieß schließlich, dieser Ort sei die einzige russische Stadt außerhalb Russlands. Die Gouvernante hatte mehr als eine Adelsdame von Baden-Badens Reizen schwärmen hören. Helene verzog ihr Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse. Reichtum und Schönheit – so etwas zog immer auch ganz bestimmte Frauen an: attraktive Schauspielerinnen, Konkubinen, zweitklassige Balletttänzerinnen, alle auf der Suche nach einem Ehemann. Zu dieser Sorte »Dame« zählte sie sich gewiss nicht. Deshalb war es doch gut, dass sie an den Stuttgarter Hof von Kronprinzessin Olga und Kronprinz Karl reiste. Hier würden ihre Chancen, einen geeigneten Ehemann zu finden, besser stehen als in Baden-Baden. Kronprinzessin Olga hatte viele Russen um sich geschart, erzählte man sich. Aus Heimweh? Oder weil sie ihren Landsleuten eher vertraute als den Württembergern? Ausschlaggebend für Helenes Zusage, nach Stuttgart zu wechseln, war tatsächlich die stetig wachsende russische Gemeinde gewesen, die sich hier etablierte. Dass sich in Stuttgart so viele Russen angesiedelt hatten, kam nicht von ungefähr: OlgaNikolajewna war nicht die erste
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