Die russische Herzogin
anderen Kindern spielen. Wann immer Olly die Söhne und Töchter ihrer Angestellten einlud, gab es über kurz oder lang Ärger: Ein Kuchen, der nicht in absolut identisch große Stücke geteilt wurde, reichte aus, um Weras Wut zu entfachen. Oder eine Bemerkung, die ihr aus irgendeinem Grund nicht gefiel, ein verlorenes Spiel. Aus Angst, dass Wera sie schlagen oder nach ihnen treten würde, trauten sich die Kinder inzwischen kaum mehr ins Palais.
Auch die Lehrer, die Olly für Weras Unterricht engagiert hatte, waren alles andere als erbaut von ihrem Schützling. In der letzten Erdkundestundehatte Wera die Seiten eines großen Atlas zerrissen, nachdem es ihr nicht auf Anhieb gelungen war, auf den Hunderten von Seiten den Finnischen Meerbusen ausfindig zu machen. Der Lehrer war entsetzt aus dem Palais gestürmt, auf Nimmerwiedersehen, wie Olly befürchtete. Auch der Deutschlehrer war kurz davor aufzugeben. »Diesem Kind Schiller und Goethe vorzubeten bedeutet, Perlen vor die Säue zu werfen«, hatte sich Olly von ihm anhören müssen. Was für ein unverschämter Mensch! Einzig vom Mathematiklehrer kamen keine Klagen, seinen Stunden wohnte Wera interessiert bei. »Die Sprache der Zahlen ist universell«, hatte er vor ein paar Tagen schulterzuckend gesagt, als Olly ihn nach seinem »Geheimnis« fragte.
Spaziergänge, Ausflüge in die Stadt, Schlittenfahren auf einem der vielen Hügel rund um Stuttgart – von alldem wollte Wera nichts wissen. Stattdessen schlich sie wie ein Gespenst stundenlang durch das Palais oder versteckte sich in irgendeiner unzugänglichen Ecke.
Vielleicht war es gut, dass sie, Olly, keine eigenen Kinder bekommen hatte. Sie war unfähig, einem Kind für sein Glück ausreichend Liebe und Geborgenheit zu vermitteln …
Genauso unfähig, wie sie als Ehefrau war.
Olly war derart tief in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, wie sich die Tür zu ihrem Schlafzimmer langsam öffnete.
»Karl, du?« Unwillkürlich fiel ihr Blick erneut auf die Uhr. Es war kurz nach halb drei. Wo kam er jetzt her? Sie versuchte sich aufzurichten, doch er drückte sie sanft in die Kissen zurück.
»Wie blass du bist! Hätte ich gewusst, wie schlecht es dir geht, wäre ich früher gekommen.« Er nahm ihre Hand, und sogleich umhüllte Olly Zigarettenrauch. Kam er von einem Herrenabend?
»Hat sich deine Mutter wieder etwas beruhigt? Es tut mir leid, dass Wera –«
Karl winkte ab. »Du kennst ja Mutter, sie kann niemandem lange böse sein. Gott sei Dank. Die Situation war doch sehr unangenehm.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, woher Wera das mit Vaters Geliebter weiß.«
»DasKind hat seine Augen und Ohren immer genau dort, wo sie nichts verloren haben«, sagte Olly. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie noch ganz andere Dinge erfahren hat«, fügte sie hinzu, ohne etwas Besonderes damit zu meinen. Karls erschrockenen Blick registrierte sie sehr wohl, zog es jedoch vor, ihn zu ignorieren. Verzagt schüttelte sie den Kopf.
»Ich verstehe das Mädchen nicht. Im einen Moment ist sie lieb wie ein Engel, im nächsten der schlimmste Bengel! Einmal redet sie so erwachsen daher wie ein Mensch, der schon viel gesehen und erlebt hat, und im nächsten Augenblick herzt sie ihre Puppe wie ein kleines Kind. Diese Sprunghaftigkeit ist doch nicht normal, oder?«
»Dieses Kind raubt dir noch die letzte Kraft, und mir ebenfalls. Ich denke, für heute ist es genug.« Schon wandte er sich zum Gehen ab.
»Karl!« Olly hielt ihn am Jackenärmel fest. Der Gedanke, mit sich und ihren Gedanken allein bleiben zu müssen, war ihr auf einmal unerträglich. »Warum … bleibst du nicht bis zum Morgen? So wie früher …« In einer hilflos anmutenden Geste versuchte sie sich an ihn zu schmiegen. Kleine Küsse landeten auf seiner Wange und an seinem Hals.
»Olly …«, sagte er gequält.
»Warum kann es nicht wie früher sein?« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung. »Wenn du mir sagst, was ich tun soll … Ich … weiß, dass Männer manchmal Wünsche haben, die wir Damen nicht immer gleich erahnen. Vielleicht, wenn ich mich anstrenge … Ich möchte dir alles geben, ich will ganz und gar deine Frau sein. Du musst mir nur sagen, was ich tun soll …« Sie schlang ihre Arme um ihn.
»Olly, bitte, beruhige dich. Du bist müde und überreizt, und sprunghaft wie Wera …« Fast gewaltsam schüttelte Karl sie.
Olly fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
»Müde und überreizt! Ist das denn ein Wunder?«
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